Zündfunke, Dienstag 15.05.12

Diakon Bertram Bolz
Deutschsprachige Kath. Gemeinde in Puerto de la Cruz
Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Schwestern und Brüder!
„Wie soll man den Versöhnungstag, den höchsten Festtag der Juden, denn in rechter Weise begehen?“, so fragten einmal die Schüler ihren weisen Rabbi.
Der wiederum schickte sie zu einem Schneider am Rande der Stadt. Neugierig schauten sie dort durchs Fenster und sahen, wie der Schneider im Kreise seiner Familie die traditionellen Gebete verrichtete. Dann holte er ein Notizbuch hervor, in dem all seine Sünden aus dem vergangenen Jahr aufgezeichnet waren. In aller Ruhe ging er sie Punkt für Punkt durch. Dann nahm der Schneider ein dickes Buch aus dem Schrank und fing an: „Allmächtiger Gott! Ich habe dir alle meine Sünden aufgezählt. Und jetzt? Jetzt werde ich deine Sünden aufzählen.“ Und dann folgte eine lange Liste: Alle Krankheiten, alle Missgeschicke und Enttäuschungen, die er und mit ihm seine Familie erlitten hatten, kamen da zur Sprache. Als er dann mit der Abrechnung fertig war, sagte er: „Allmächtiger Gott! Wenn man eine ehrliche Rechnung aufstellt, dann schuldest du mir mehr als ich dir. Aber ich will ja nicht kleinlich sein. An diesem Feiertag müssen sich alle versöhnen. So verzeihe ich dir deine Sünden und auch du sollst uns unsere Sünden verzeihen.“ Daraufhin feierte der Schuster mit der gesamten Familie ein fröhliches Fest!
Das ist ja unglaublich, dachten die Schüler. Ist das, was der Schuster da von sich gab, nicht Gotteslästerung? So zogen sie voll innerem Zorn wieder zu ihrem Rabbi und erzählten ihm, was sie gesehen und gehört hatten. Doch der Schriftgelehrte antwortete: „Der Allmächtige selbst wird an diesem Tag kommen, um die Worte des Schneiders zu hören, damit sich die ganze Welt an seinen Worten erfreuen soll.“ Und damit ließ er die Schüler allein.
Kann man, liebe Hörerinnen und Hörer, so mit Gott umgehen? Ihm das Leid, das unser Leben oft so schwer macht, als „Sünde“ ankreiden? Dabei plagen sich ja gerade fromme Menschen seit jeher mit der Frage: Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott all das namenlose Elend in dieser Welt zulassen? Seit Jahrhunderten beißen sich Philosophen und Theologen an diesem Problem die Zähne aus. Eine befriedigende theoretische Antwort hat aber bisher noch niemand gefunden. Der einfache jüdische Schneider in unserer Geschichte ist da wohl schon ein ganzes Stück weiter. Er versucht erst gar nicht, Gott zu rechtfertigen oder ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen. Und doch bleibt er wie selbstverständlich mit ihm im Gespräch. Er denkt keinen Augenblick daran, seinen Glauben angesichts des – wohlgemerkt unverschuldet – erfahrenen Leids aufzugeben, das ihn und seine Familie getroffen hat. Genau eine solche Haltung aber, die verletzt weder die Würde von uns Menschen noch mindert sie die Einzigartigkeit Gottes. In diesem Sinne – gehen sie mit Gott einfach ganz normal um!

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Erstellt am: 15.05.2012 08:03 Uhr

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