Diakon Bertram Bolz, Deutschsprachige Kath. Gemeinde in Puerto de la Cruz
„Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen“ – das, verehrte Schwestern und Brüder, war die Antwort, die Jesus bekam, nachdem er einem Blinden Speichel auf die Augen tat, ihm die Hand auflegte und fragte: Siehst Du etwas? „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen“. Die Heilung scheint noch nicht ganz gelungen. Der Blinde sieht noch nicht richtig, aber er sieht Richtiges. Er sieht noch nicht scharf, aber er sieht das Wesen des Menschen und unseren Zwiespalt zwischen Gehen und Bleiben.
Davon erzählt auch die folgende Geschichte: „Da stehst du nun“, sagte der Landstreicher zum Baum. „Bist zwar groß und kräftig, aber was hast du schon vom Leben? Immer an derselben Stelle! Du kannst einem leidtun! “Er packte sein Bündel und ging los. „Da gehst du nun“, sagte der Baum. „Immer bist du unterwegs, hast keinen Platz, an den du gehörst. Du kannst einem wirklich leidtun!“ Der Landstreicher blieb stehen. „Meinst du wirklich, was du sagst? Ich geh’ in die Welt, Tag für Tag, ich kenne die Menschen, den Fluss und die Dörfer…“
„Zu mir kommt die Welt“, sagte der Baum. „Der Wind und der Regen, die Eichhörnchen und die Vögel. Und in der Nacht setzt sich der Mond auf meine Zweige.“ „Ja, ja“, sagte der Landstreicher, „aber das Gefühl zu gehen – Schritt für Schritt.“ „Mag schon sein“, sagte der Baum, „aber das Gefühl zu bleiben – Tag und Nacht.“
„Bleiben“, sagte der Landstreicher nachdenklich. „Zu Hause sein. Ach, ja.“ Und der Baum seufzte: „Gehen, unterwegs sein können – ach, ja.“ „Wurzeln zu haben“, sagte der Landstreicher, „das muss ein tolles Gefühl sein!“ „Ja“, sagte der Baum, „ganz ruhig und fest ist es. Und wie lebt man mit den Füßen?“ „Leicht“, sagte der Landstreicher, „flüchtig und schnell.“
„Wenn wir tauschen könnten“, sagte der Baum, „für eine Weile.“ „Ja“, sagte der Landstreicher, „das wäre schön.“ „Lass uns Freunde sein“, sagte der Baum und der Landstreicher nickte. „Ich werde wiederkommen und ich werde dir vom Gehen erzählen.“ „Und ich“, sagte der Baum, „erzähle dir dann vom Bleiben.“
Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. – auf dem Weg zur Heilung spürt der Blinde den tiefen Wunsch: man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum, der verwurzelt ist, der seinen Platz hat, eine Heimat. Erstaunlicherweise schickt Jesus den Geheilten nicht zurück in sein Dorf. Ich verstehe das so, dass Jesus ihn ermutigt: Jetzt geh und finde deinen eigenen Weg.
Infos unter:
Erstellt am: 08.09.2014 18:51 Uhr