L I: Dtn 18, 15-20 / Ev.: Mk 1, 21-28
Schwestern und Brüder!
Als der Evangelist Markus so um die Jahre 65-68 anfing, das Leben und Wirken Jesu niederzuschreiben, da lagen diese Geschehnisse schon fast 40 Jahre zurück. Markus selbst, von dieser Tatsache können wir ausgehen, hat Jesus nicht gekannt, sondern vielmehr erst lange nach Ostern durch die Urgemeinde etwas von ihm gehört und war so zum Glauben gekommen. Ihm war es wichtig, all die Geschichten, die man sich über Jesus erzählte, niederzuschreiben. Doch womit sollte er anfangen? Welche der vielen und ja auch äußerst eindrucksvollen und imposanten Wundergeschichten sollte er als Erste erzählen? Schließlich ist es ihm ja ein Herzensanliegen gewesen, seinen Zuhörerinnen und Zuhörern auf Anhieb klar zu machen, worum es Jesus bei seiner Predigt gegangen ist. Und so beginnt er also mit einer Heilungsgeschichte, die bei uns durchaus Fragen aufwirft. Aber – nachdem ich mich die beiden letzten Male bei diesem Evangelium intensiv mit der Frage nach Damönen, nach Unheilsmächten und negativen Kräften in uns selbst beschäftigt habe – ist mir dieses Mal ein Satz aus dem Evangelium ins Auge gestochen, der mich einerseits sehr nachdenklich, andererseits aber auch sehr begeistert hat. Es ist der Satz: „Die Menschen waren sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der göttliche Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten.“
Die Leute waren also erschrocken, tief beeindruckt oder auch: es hat sie umgehauen, was Jesus ihnen da in der Synagoge erzählt hat. Oder anders gesagt: Wer Jesus reden hört, der spürt überdeutlich: Hier begegnet mir ein Wort, das unter die Haut geht; ein Wort, das mich herausfordert und weiterbringt; ein Wort, das mir neue Lebensmöglichkeiten eröffnet, weil es Verkrampfungen und Erstarrungen löst, weil es tröstet und ermutigt. Wer z.B. wie der Mann im Evangelium mit sich selbst im Unreinen ist, wer von seinen Gedanken und Empfindungen hin- und hergerissen ist, der findet durch die Worte Jesu zu einer Entschiedenheit und Klarheit, die in diesem Maße vorher nicht möglich war. Ja, wer Jesus hört, der spürt eindeutig: Hier trifft mich das Wort Gottes; es trifft mich sein Anspruch, aber eben auch sein ganz persönlicher Zuspruch an mich.
Der große Tübinger Alttestamentler Fridolin Stier, hat genau dieses kraftvolle und treffende Wort immer wieder als nicht existent in unserer Zeit und auch in unserer Kirche beklagt. Er hat am Ende seines Wirkens bedauert, dass die Kirche Jesu zu einer Kirche der Schriftgelehrten geworden ist, und er hat genau diese Klage in einer sehr beeindruckenden Symbolgeschichte zum Ausdruck gebracht:
„Das Wort Gottes kommt in die Stadt. Plötzlich läuft dieser Satz wie ein Gerücht durch die Stadt. Alle reden davon. In den Zeitungen wird das Für und Wider diskutiert. In kirchlichen Verlautbarungen wird gewarnt: Das Wort Gottes könne ja gar nicht mehr kommen, weil es ja längst gekommen sei. Wir besäßen es ja schließlich in den Heiligen Büchern und es fehle auch nicht an kirchlichen Fachleuten, die es erklären könnten. Aber das Wort Gottes kam trotzdem in die Stadt.
„Was wollen Sie?“, wird es an der ersten Haustür gefragt. „Wer sind Sie überhaupt?“, wird das Wort gefragt. „Ich bin das Wort Gottes! Ich bin doch angekündigt!“ – „Ach was, Worte, nichts als Worte. Es muss etwas getan werden!“, entgegnete der Mann an der Tür. „Wenn Sie mich einlassen, tut sich etwas mit Ihnen!“ Doch da war die Tür schon zugeschlagen.
Am nächsten Sonntag wurde das Wort Gottes in die Pfarrkirche eingeladen. Der Empfang war feierlich. Dem Wort Gottes wurde ein Ehrenplatz eingeräumt. Daneben brannten Kerzen. Weihrauchwolken stiegen auf. Dann begann die Predigt. Der Geistliche fand eindrucksvolle Worte und er sprach lange. Aber das Wort Gottes kam nicht zu Wort. Aus den Bänken wurde nach ihm gerufen. Aber da war das Wort Gottes schon nicht mehr da und auf dem Ehrenplatz lag ein altes Buch…“
Es ist, ich gebe dies gerne zu, eine mehr als provozierende Geschichte. Da rufen die Menschen nach dem Wort – und sie bekommen ein altes Buch. Da schreien Menschen nach dem lebendigen Wort – und wir geben ihnen tote Buchstaben. Da hungern Menschen nach dem befreienden und erlösenden Wort für sie – und wir sperren genau dieses Wort in Paragraphen und Lehrsätze. Da warten die Menschen auf ein ermutigendes und mitreißendes Wort – und wir pressen es in Gebote und Verbote. Da hoffen Menschen auf das tröstende und verständnisvolle Wort – und wir präsentieren ihnen oft nur Floskeln und Formeln.
„Die Menschen waren sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der göttliche Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten.“ Es scheint also nicht nur oder vor allem darum zu gehen, was Jesus predigt, sondern wie er spricht. Inhalt und Information sind das eine. Aber der Ton macht die Musik. Wenn wir sprechen, das wissen wir doch alle, dann informieren wir damit nicht nur, sondern wir bringen uns selbst zum Ausdruck – wer wir sind oder wer wir sein möchten. Wir signalisieren, in welcher Beziehung wir zum anderen stehen oder stehen wollen und wir senden vielleicht eine Aufforderung aus, was unsere Zuhörerinnen und Zuhörer tun sollen. Also verändern wir mit unseren Worten die Wirklichkeit – oder nicht? Genau deshalb aber läuft nun auch die Geschichte von Fridolin Stier auf die alles entscheidende Frage zu: Wie müsste denn die Kirche heute reden, wenn sie wie Jesus die Herzen der Menschen erreichen will? Was wäre das für eine Sprache, die heute wieder neugierig macht auf das Wort Gottes und in der uns heute sowohl sein Zuspruch, als auch sein Anspruch trifft?
Ich meine, es wäre zunächst einmal die Sprache der Überraschung; eine
Sprache, die – wie die Gleichnisse Jesus damals – den Menschen Aha-Erlebnisse vermittelt, ihnen neue Perspektiven eröffnet und sie ihr Leben in einem ganz anderen Licht sehen lässt. Dann wäre es sicherlich auch eine Sprache der Redlichkeit, die eben nicht auf alles bereits fertige Antworten parat hat, sondern eine Sprache, die sich vorsichtig an das Wort Gottes herantastet und die Zweifel und Fragen der Menschen ernst nimmt. Wie sagte der frühere evangelische Landesbischof von Württemberg, Hans von Keler: „Ein fertiger Christ ist leider oft einer, der andere fertig macht.“
Dann wäre es sicherlich eine Sprache des Humors, die etwas widerspiegelt von der Botschaft Jesu, die Gelassenheit ausstrahlt; die auf fanatische Parolen und verbissene Wortglaubereien verzichtet; die zum „Totz-Allem-Lachen“ animiert – also zur Freude, trotz all der schlimmen Erfahrungen, die wir Menschen oft machen müssen – eben eine Sprache, die sich der Vorläufigkeit des menschlichen Lebens bewusst ist. Wie hat der selige Johannes XXIII. gesagt: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“
Und es wäre schließlich eine Sprache der Taten; eine Sprache, die ohne große Worte den Geist Jesu lebendig werden lässt; die erahnen lässt, wie Jesus sich ein gelingendes Leben und Zusammenleben der Menschen vorgestellt hat. Ähnlich dem Grundsatz, den die evangelische Bruderschaft von Gnadenthal so formuliert hat: „Rede von Christus nur, wenn du gefragt wirst. Aber lebe so, dass man dich fragt.“
Die Sprache der Überraschung, der Redlichkeit, des Humors und der Taten – genau das ist eben nicht die Sprache der Schriftgelehrten. Diese haben viel gelernt, die heiligen Schriften studiert und sie wissen immens viel. Aber man muss sie fragen, wie man heute Theologen und Geistliche fragen muss: Stehen sie auch dahinter? Strahlen sie in dem, was sie verkünden, Glaubwürdigkeit aus? Das tut doch nur, wer eben nicht in innerer Distanz und in Anführungszeichen von der Botschaft Jesu und Wort Gottes redet. Ergo: Können wir alle doch diese Sprache sprechen; können wir dem Wort Gottes einen frischen und neuen Klang geben – vorausgesetzt, wir selbst lassen uns von diesem Wort treffen und bewegen.
Das aber will Fridolin Stier erreichen, wenn er am Ende seiner Geschichte das Wort Gottes zu einem Bibelgelehrten gehen lässt, dessen neuestes Buch „Vom Wesen und Wirken des Wortes Gottes“ demnächst erscheinen sollte: Der Gelehrte freute sich sehr über den Besucher und fragte, ob er ihm etwas aus dem neuen Buch vorlesen dürfe. „Lesen Sie, Herr Professor“, sagte das Wort Gottes, „ich bin ganz Ohr.“ Er las – es schwieg. Als die Lesung zu Ende war, sagte das Wort: „Mein Kompliment, das war meisterhaft. Aber wissen Sie, wenn ich so als Studienobjekt betrachtet, besprochen und beschrieben werde, dann wird mir ganz seltsam zumute, gerade so als ob ich meine eigene Leiche sähe. Aber einmal, da schreiben Sie und das finde ich sehr treffend, ich wolle primär nicht Wahrheiten offenbaren, sondern ich wolle vielmehr den Menschen selbst. Das wär’s, Herr Professor, genau das.“ Und das Wort Gottes erhob sich und schritt zur Tür. „Was wollen Sie denn von mir?“, schrie ihm der Professor nach. „Sie will ich“, sagte das Wort Gottes, „Sie!“ Und die Tür fiel leise ins Schloss.
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Erstellt am: 29.01.2012 19:32 Uhr