Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis 2014 (26.10.)

Lesung: Ex 22, 20-26 / Evangelium: Mt 22, 34-40
Schwestern und Brüder!
Ich sage Ihnen sicherlich nichts Neues, wenn ich behaupte: Bei diesem Evangelium gerät man leicht in Versuchung abzuschalten. Und weshalb? Weil man dieses Gebot der Gottes- und Nächstenliebe einfach zur Genüge kennt. Aber kennen wir es wirklich so gut? Ist uns bewusst, was tatsächlich damit gemeint ist? Eine kleine Geschichte aus dem Orient, kann uns vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen:
Ein hübsches junges Mädchen war auf dem Weg zu seinem Geliebten. Dabei kam sie an einem Mullah vorüber, der betete. Da es das Mädchen sehr eilig hatte, übersah es den Gelehrten und beachtete ihn in keinster Weise. Darüber aber wurde dieser so zornig, dass er das Mädchen mit den Worten zurückrief: „He, du bist an mir vorbeigelaufen, als ich betete, ohne mir den nötigen Gruß zu schenken. Das ist eine Sünde!“ Worauf das Mädchen beschämt antwortete: „Verzeiht meine Unkenntnis – aber was ist das ‚Beten’?“ Darauf erwiderte der Mullah in großartiger Geste: „Ich hielt Zwiesprache mit dem Herrn des Himmels und der Erde.“ Das Mädchen antwortete ihm: „Und ich bin auf dem Weg zu meinem Liebsten; mein Herz ist ganz erfüllt von Sehnsucht nach ihm. Deshalb habe ich Dich und Dein Beten überhaupt nicht bemerkt. Entschuldige vielmals! Aber eine Frage: Wie konntest Du mich sehen – wenn Du doch ganz und gar in Zwiesprache mit dem Herrn des Himmels und der Erde versunken warst?“
Das Mädchen hat erkannt, dass es mit dem religiösen Ernst des Gottesmannes wohl nicht weit her sein kann, wenn er doch in seinem Herzen und in seinem Kopf noch ganz offensichtlich immens viel Platz für höchst irdische Gedanken hat; sonst hätte er das Mädchen ja wirklich nicht bemerkt. Ganz anders dagegen ihre innere Verfasstheit: sie nimmt ihre Umwelt nicht wahr, weil sie von einer immensen Sehnsucht nach ihrem Liebsten bestimmt ist. Eine Geschichte zum Schmunzeln – gewiss. Aber andererseits offenbart sie uns eben auch die Schwierigkeit, dass man einen konkreten Menschen, den man sieht, den man kennt und zu dem man sich hingezogen fühlt, den man spüren und in den Arm nehmen kann, dass man so einen Menschen eben viel eher lieben kann als Gott. Das hat nichts mit Blasphemie zu tun, wenn ich das sage – sondern ich denke, jede und jeder von uns stellt sich ja ab und an die Frage: kann ich jemanden lieben, den ich noch nie gesehen habe und den ich zu meinen Lebzeiten auch höchstwahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen werde? Ist Liebe – nach unserem Verständnis des Wortes – da dann aber überhaupt möglich? Eine mehr als schwierige Frage; denn rein menschlich gesehen braucht die Liebe ja immer auch den Kontakt und das Gespräch. Nicht umsonst scheitern so viele menschliche Liebesgeschichten, weil es genau an diesem Austausch hapert und fehlt. Und dann dieses: „Du sollst!“ Als ob Liebe auf Kommando möglich wäre. Aber Liebe lässt sich doch nicht verordnen, weder von der Kirche noch von Privatpersonen. Liebe kann nur in Freiheit gelebt werden – genau das aber ist der Schlüssel zur Gottesliebe.
Dieses Hauptgebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben“ ist aus der Erfahrung des Volkes Israel erwachsen. Auf dem langen Weg seiner Geschichte hat es gelernt und erfahren: Dieser unser Gott geht mit uns. Er begleitet uns in allem und immer! Nur so hat dieses kleine Völkchen die enorme Kraft gewonnen, all die Durststrecken und Kämpfe seiner Geschichte zu überstehen. Nur in dieser innigen Beziehung, in dieser Nähe zu Gott war es ihm möglich, die Freiheit zu finden. Deshalb aber war es den Juden, als sie dann endlich in der Freiheit angekommen waren, eben auch ein immenses Bedürfnis, diesem Gott Dank zu sagen. Sicherlich: Aus dieser inneren Verpflichtung heraus klingt das für uns zunächst wie eine Forderung. Aber positiv formuliert heißt und meint es vielmehr: Wir können doch gar nicht anders. Nach all dem, was dieser Gott für uns getan hat können wir doch gar nicht anders, als ihn zu lieben. Und damit die Nachkommen das nie vergessen, schreiben wir ihnen ins Stammbuch: „Du sollst!“ Fast so wie Martin Luther damals sagte, als er sich auf sein Gewissen berief: „Hier steh ich und ich kann nicht anders.“
Dieses innere Drängen und Gar-nicht-anders-Können geht ja manchen frisch Verliebten genauso. Sie tun Dinge, die ‚man’ normalerweise nie tun würde und sie werden deshalb von ihrer Umgebung oft genug süffisant belächelt und für leicht verrückt erklärt. Aber Liebe ist nun mal so. Und Israel kann gar nicht anders, als seine Erfahrung in diesem „Du sollst“ auszudrücken. Denn der Verlust dieser Beziehung zu Gott, das würde auch den Verlust der eigenen Identität zur Folge haben; den Verlust von Zusammenhalt und Stärke, von Gemeinschaft und füreinander Einstehen. Deshalb betet der gläubige Jude stets: „Höre Israel, es gibt nur einen Gott…“
Wie aber kann man nun – um die vorhin aufgeworfene Frage wieder in den Blick zu nehmen – jemanden lieben, den man nicht hautnah oder zumindest mit den Augen wahrnehmen kann? Oder anders gesagt: Wie wird die Gottesliebe heute – in unserem Alltag – glaubwürdig? Sicherlich nicht durch religiöse Posen oder durch fromme Worte – ich glaube darin sind sich Juden und Christen einig. Denn die „Goldene Regel“ – handle so an deinem Nächsten wie du selbst behandelt werden willst – ist ja keine christliche Erfindung. Bereits im AT heißt es im 5. Buch Mose: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit ganzer Seele und all deinen Gedanken“, und im 3. Buch heißt es bei Mose: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Auf diese beiden Gebote aber bezieht sich Jesus und bezeichnet sie beide als „gleich wichtig“.
Für mich wird in der Zusammenfassung dieser beiden Gebote durch Jesus
aber deutlich, dass Nächstenliebe und Gottesliebe nicht nur gleichrangig und gleichwertig nebeneinander stehen, sondern dass dieses zweite Gebot das erste letztlich erklärt. Wir sollen Gott aus ganzem Herzen und mit all unseren Gedanken lieben, und diese Liebe zu Gott, die verwirklicht sich schlussendlich darin, dass wir den Mitmenschen so lieben, wie uns selbst. Wer also behauptet, Gott zu lieben und trotzdem Menschen links liegen lässt; wer fromme Worte macht, aber die Not anderer nicht zur Kenntnis nimmt, der nimmt dieses Gebot Jesu nicht ernst. Leere Bekenntnisse und fromme Wortphrasen sind nicht das Ding von Jesus. Es geht ihm nicht darum, dass wir Gott lieben sollen und darüber hinaus auch noch den Menschen. Nein, in dem wir den Mitmenschen lieben, lieben wir eben auch Gott. Oder wie Jesus an anderer Stelle sagt: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!“
Gerade heute, am Sonntag der Weltmission, sollten wir als Christen unseren Blick auf die Menschen richten, denen in vielen Ländern dieser Erde die Freiheit fehlt, das Evangelium annehmen zu können oder die sich aufgrund ihrer Lebensumstände schwer tun daran zu glauben, dass Gott sie liebt. Diesen Menschen gegenüber müssen wir deutlich machen und sie müssen durch unser Verhalten spüren, was dieses Gebot der Gottes- und Nächstenliebe in der Realität heißt. Die alttestamentliche Lesung, die wir gehört haben, ist so etwas wie eine „Wechselstube der Liebe“ für unseren Alltag. Denn da geht es zum Beispiel um die Konkretisierung von sozialer, gesellschaftlicher und politischer Liebe. An erster Stelle unter denen, die wir da unterstützen sollen, stehen die Fremden, Migranten und Flüchtlinge. Egal ob es sich dabei um Flüchtlinge aus Kriegsgebieten handelt oder um Wirtschaftsflüchtlinge. Gerade wir, die wir häufig weltweit als Touristen unterwegs sind, verbindet ja die Erfahrung des Aufbruchs, der Ferne und des Verlassens der Heimat. Nur: Wir kehren irgendwann wieder heim, aber der Flüchtling, der Migrant gibt sein Zuhause auf und „Heimat“ wird für ihn zu einem fernen Sehnsuchtsort. Ferner geht es in diesem Lesungstext um Fremdarbeiter oder auch die vielen Opfer – vor allem Frauen und Kinder – im Bereich des Menschenhandels. Es geht darum, die Not der Menschen nicht auszunutzen oder gar Geschäfte damit zu machen, sondern sie in ihrem Leid anzunehmen und ihnen nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen und sie die Liebe Gottes so spüren zu lassen.
Halten wir also fest: Ein Leben ohne Liebe ist unmöglich. Wir sind auf sie angewiesen in all ihren Facetten – in Zärtlichkeiten und Zuwendungen, in Eros und Leidenschaft, in Hingabe und Annahme, in Aufrichten und Halt schenken, in Geborgenheit und Vertrauen. So wie aber in der Partnerschaft zweier Menschen die Liebe in all ihren Facetten nur spürbar ist und eine Chance hat, wenn sie von beiden Seiten erwidert wird, so darf die Liebe zum Nächsten und auch zu sich selbst nicht nach Kosten-Nutzen-Rechnungen vollzogen werden oder nach Einteilungen wie: „nahe“ und „ferne“ oder „liebenswürdige“ und „zu vernachlässigende“ Nächste. Gott teilt auch nicht ein und rechnet nicht vor; er schenkt in Fülle. Und so will ich jetzt dem Hl. Augustinus in etwas abgewandelter Form das letzte Wort schenken, der gesagt hat: „Liebe, und dann tue, was du willst. Denn wer die Liebe lebt und sie tut, der hat Gott erkannt – der liebt Gott und der liebt die Menschen.“ Amen.

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Erstellt am: 28.10.2014 18:48 Uhr

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