Schwestern und Brüder!
„In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war die Schönste. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer, dunkler Wald, in dem unter einer alten Linde ein Brunnen war. Wenn nun der Tag recht heiß war, ging das schöne Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Brunnen, und wenn es Langeweile hatte, nahm es eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf; das war sein liebstes Spielwerk…“
Kommt Ihnen die Geschichte bekannt vor? Genau, es ist die Geschichte vom Froschkönig. Wir wissen: eine goldene Kugel fällt in den Brunnen, das Kind ist untröstlich und ein Frosch erbarmt sich seiner. Aus der Tiefe des Brunnens holt er die Kugel ans Tageslicht. Allerdings eilt das Kind davon, ohne weiter auf den Frosch zu achten und vor allem: ohne sein Versprechen einzulösen, den Frosch mitzunehmen und mit ihm Tisch und Bett zu teilen.
Wie die Geschichte weitergeht? Plitsch platsch und auf einmal steht der Frosch vor der Tür. Dem Kind wird angst und bange, doch der König, ihr Vater, besteht darauf, dass das gegebene Wort eingehalten wird. Als der Frosch dann tatsächlich im Bett neben dem Mädchen schlafen will, wird er von ihr wütend an die Wand geklatscht – und: entpuppt sich als verhexter Königssohn. Jetzt also ist er erlöst. Dieses Wort kommt tatsächlich vor: erlöst. Das Mädchen wird erlöst und der Königsohn wird erlöst. So wird in diesem Märchen der Gebrüder Grimm die Sehnsucht angesprochen, zurückzubekommen, was einstmals verloren war. Es spricht von der Sehnsucht, dass ein Versprechen verlässlich eingehalten werden soll; und davon, einen Fluch zu überwinden. Aber: es ist ein Märchen – ganz anders also als unser Evangelium. Bei Johannes ist nichts verhext, aber doch vieles verkorkst. Mit einem Schluck Wasser fängt hier die Erzählung an und am Ende steht die Fülle des Lebens. Dazwischen aber geschieht Begegnung – oder auch: es findet eine Liebesgeschichte statt. Hören wir einfach mal, was die Frau am Brunnen in einem fiktiven Brief an Ihre Freundin geschrieben hat:
„Liebe Hannah, gestern ist mir etwas so seltsames passiert, dass ich es Dir unbedingt erzählen muss, weil ich es selber noch nicht so recht begreifen kann. Vielleicht kannst Du mir ja helfen, es besser zu verstehen. Du weißt ja, dass ich immer um die Mittagszeit zu unserem Jakobsbrunnen gehe, um mein Wasser zu holen. Ich weiß, es ist blöd, dies in der sengenden Mittagshitze zu tun. Aber morgens, wenn all die anderen Frauen da sind, fühl ich mich nicht wohl. Ich kann ihre Blicke oft nicht mehr ertragen. Für sie bin ich nichts anderes als eine Ehebrecherin, eine Sünderin – ein Flittchen. Was soll ich denn auch mit ihnen reden? Sie haben ja Recht. Ich habe es noch nie geschafft, eine gute Ehe zu leben. Irgendwie hab ich immer die falschen Frösche geküsst – und keiner hat sich in den verwandelt, mit dem ich in die Zukunft hätte gehen können und auch wollen. Ja, ich bin immer an die Falschen geraten; aber das ist ein anderes Thema.
Jetzt pass auf: Gestern war es eigentlich so wie immer. Aber als ich außerhalb des Dorfes auf die staubige Landstraße einbog, sah ich von weitem einen Mann am Brunnen sitzen. Am liebsten hätte ich gleich wieder kehrtgemacht und wäre heimgegangen, weil ich ja allein sein wollte. Aber ich brauchte das Wasser, weil ich schon seit Stunden keines mehr hatte. Also fasste ich mir ein Herz und ging weiter. Als ich dann noch ein Stückchen näher dran war, sah ich, dass dieser Mann ein Jude war. Kannst dir das vorstellen? Ich allein mit einem Juden am Brunnen! Das hatte mir grade noch gefehlt. Ich wußte ja auch gar nicht, wie er auf mich als Samariterin wohl reagieren würde. Du weißt ja selbst, was die Juden von uns halten. Für die sind wir doch nur der Abschaum der Gesellschaft.
Ich beschloss für mich so zu tun, als sei er gar nicht da. Und ich hatte mir vorgenommen: Wenn er anfängt mich zu beschimpfen, dann reagiere ich einfach nicht. Also ging ich zielstrebig zur Winde und schaute den Mann gar nicht an. Als ich aber den Krug hinablassen wollte, kam es mir so vor, als spürte ich seinen Blick auf mir. Ganz intensiv. Und das Eigenartige: es war mir gar nicht unangenehm. „Gib mir bitte zu trinken,“ sagte er. Ich traute meinen Ohren nicht. Wie kann er denn als Mann, mich, eine Frau um etwas bitten? Wie kann er, ein Jude, mich – eine Samariterin, eine Ungläubige – ansprechen? Normalerweise beobachten mich Männer doch nur aus den Augenwinkeln oder mit diesem bestimmten lüsternen Blick, mit dem sie Frauen immer anschauen, wenn sie das Eine wollen. Und: Normalerweise bin ich’s gewohnt, dass man über mich spricht. Aber der sprach mich an. Deshalb hab ich mich gefragt: Wo ist das Fettnäpfchen, in das ich jetzt gleich treten werde?
Doch nichts dergleichen. Vielmehr sagte er ganz unvermittelt, dass er mir etwas zu geben hätte. Lebendiges Wasser, von dem man angeblich keinen Durst mehr bekommen würde. Stell Dir das mal vor. Das wäre doch der Hammer. Ein Wasser, das nicht mehr ausgeht und mir all diese beschwerlichen Wege ersparen würde. Ohne groß nachzudenken hab ich spontan gesagt: „Ja, Herr, gib mir dieses Wasser!“ Und schon im Sagen viel mir auf: Weshalb nenne ich ihn eigentlich „Herr“? Das hab ich doch noch nie zu einem Mann gesagt. Aber irgendetwas an ihm hat mich fasziniert.
Und jetzt pass auf, es kommt noch besser! Dieser Mann sagte mir doch glatt meine ganze Lebensgeschichte auf den Kopf zu! Sprach von meinen fünf gescheiterten Beziehungen – und dass auch die jetzige Partnerschaft im Grunde schon wieder vorbei sei… Liebe Hannah, ich kann dir nicht beschreiben, wie es mir in diesem Moment ergangen ist. Was der Mann da zu mir gesagt hat, das hat mich bis in den letzten Winkel meines Herzens getroffen. Ich weiß nicht, ob ich es Dir richtig schildern kann; aber es hat mich so berührt, so bewegt – und vor allem: Es hat mich in keinster Weise verletzt. Ich hab mich vor ihm überhaupt nicht bloß gestellt gefühlt und ich habe mich auch nicht geschämt. Ich habe immer nur gedacht – und denke es immer noch: er hat ja Recht. So sieht mein Leben aus. Immer wieder versuche ich mit all meinen Sinnen, Begierden und Sehnsüchten meine Gefühle auszuleben, aber es klappt nicht. All meine Beziehungskisten sind irgendwie immer an der Oberfläche geblieben. Sicherlich: es gab auch schöne Momente – ohne Zweifel. Aber wenn ich ehrlich bin, dann haben alle das Gegenteil von dem bewirkt, was ich wollte. Ich wollte ein Zuhause und bin an den Rand gedrängt worden. Ich wollte Gemeinschaft und Partnerschaft – und bin immer einsam geblieben. Oh ja, wie Recht er doch hat.
In diesem Moment schaute ich in den Brunnen. Ich sah mein Gesicht auf der Wasseroberfläche und gleichzeitig, wie tief der Brunnen ist. So tief, dass ich nicht auf den Grund schauen kann. Da schoss es mir durch den Kopf: Dieser Mann da, der kann mehr sehen als mein oberflächliches Gesicht, als meine äußere Erscheinung. Der sieht tiefer – bis zu meinem Grund. Ich muss es einfach noch mal sagen, weil ich es selbst noch gar nicht so recht begreife: Es hat gut getan und tut noch immer gut, dass mir einer auf den Grund geschaut hat. Hinter mein Gesicht. Dass einer gesehen hat, wie viel Durst und Sehnsucht da ist – aber auch wie viel an Wunden und Enttäuschungen. Der Mann hat dann auch in den Brunnen geschaut. Und wie sich unsere Blicke auf der Wasseroberfläche begegneten, da kam in mir etwas in Bewegung. Da spürte ich plötzlich wieder so etwas wie Le-
bensmut oder auch eine neue Lebendigkeit in mir.
Was hatte er noch einmal von diesem lebendigen Wasser gesagt? Dass ich
ihn bitten könne und dann könne er es mir geben? Hatte er es mir nicht schon gegeben? Hannah, ich weiß es nicht. Aber ich spüre jetzt, dass ich die Möglichkeit habe, mein Leben zu ändern. Und da freu ich mich drauf. Außerdem habe ich das ganz große Verlangen, allen weiterzuerzählen, was mit mir geschehen ist. Dir, meiner lieben Freundin, und auch den Menschen im Dorf. Ob er wohl der Messias ist? Was meinst du? Ich nehme Dich in den Arm und bleibe Deine…“
Ein fingierter Brief – sicherlich! Aber das Ereignis, es ist wahr. Und: Es kann sich täglich neu ereignen – in Ihrem und in meinem Leben. Es ereignet sich überall dort, wo es uns gelingt, uns anzusehen und anzunehmen, so wie wir sind, ohne uns zu verurteilen und anzuklagen; wo wir uns trauen, nach einer Zeit der Trauer, des Scheiterns und auch nach Irrwegen, einen Neuanfang zu machen. Es ereignet sich dort, wo wir bereit sind, alte Einstellungen und Meinungen zu verlassen und uns einer neuen Einsicht zu öffnen. Genauso wie die Samariterin. Ihr ist kein Märchenprinz vor die Füße gefallen – und die Beziehung zu ihrem jetzigen Mann muss sie noch klären, keine Frage. Aber sie hat ihre Selbstachtung wieder, ihre Menschenwürde ist wieder hergestellt. Deshalb muss man sich auch nicht wundern, dass sie letztlich ihren Krug am Brunnen stehen lässt und einfach zurück ins Dorf rennt, um den anderen von ihrer Veränderung zu erzählen. So wird ausgerechnet sie – von vielen sonst als „schwarzes Schaf“ des Dorfes betrachtet – zur Zeugin und Bekennerin für Jesus.
Mit einem Schluck Wasser fängt die Erzählung an und mit der Fülle des Lebens hört sie auf. Dazwischen aber findet Begegnung statt – oder auch: eine Liebesgeschichte. Amen!
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Erstellt am: 24.03.2014 09:59 Uhr