Predigt zum 23. Sonntag im Jahreskreis 2012

L I: Jes 35, 4-7a / Ev: Mk 7, 31-37
Schwestern und Brüder!

Ich weiß nicht, wie Sie das eben vorgetragene Evangelium gehört haben; was Ihnen beim Vorlesen so durch den Kopf gegangen ist oder ob Sie einfach an einer bestimmten Stelle hängengeblieben sind. Mir ist bei der Vorbereitung dieser Predigt in den Sinn gekommen, dass ich mir als Kind oft die Frage gestellt und auszumalen versucht habe, was wohl schlimmer wäre – blind oder taub zu sein – ohne wirklich eine Antwort darauf zu finden.
Irgendwann ist mir dann ein Zitat von Helen Keller in die Hände gefallen, einer amerikanischen Frau, die blind, taub und stumm ist. Und sie drückt ihre Erfahrungen so aus: „Blindsein, das trennt uns von Dingen; Taub- und Stummsein trennt uns von Menschen.“ Taubsein und Stummsein als etwas, das Menschen voneinander trennt – dazu fallen mir viele alltägliche Begebenheiten ein:
Da sind z.B. Kinder, die oft meisterhaft abschalten können und das Rufen der Eltern konsequent überhören, um ja nicht antworten zu müssen. Oder ich denke an das Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, weil sie sich schon lange nicht mehr richtig zuhören und für die dann die Tage des Urlaubs oft zur Qual werden, weil man einander nicht aus dem Wege gehen kann. Ich denke an Jugendliche, die mit ihrem Walkman in den Ohren ganz klar ihrer Umwelt zu verstehen geben: Lasst mich in Ruhe, ich will jetzt nicht reden. Oder ich denke durchaus an mich selbst. Ich will mal behaupten, dass ich ein recht guter Zuhörer bin. Aber wenn mir jemand seine Geschichte zum x-ten Male erzählt, dann spüre ich, dass ich auf Durchzug schalte. Oder ich werde taub, weil ich die immer gleiche Jammerei über die böse Schwiegermutter, den dämlichen Chef oder den unmöglichen Ehepartner nicht mehr hören kann, weil der oder die Betreffende eh nichts an sich verändert.  
Wer allerdings nicht hört, der verlernt auch das Sprechen. Vor allem, wenn es mit Angst verbunden ist. Wenn einem ständig gesagt wird: „Was redest du denn da wieder für einen Unsinn“, ja wie soll denn da jemand seinen eigenen Überlegungen noch etwas zutrauen? Oder manchmal lähmt auch die Angst, sich den Mund zu verbrennen, sich unbeliebt zu machen oder in Konflikte hineingezogen zu werden. Und nicht wenige werden stumm aus Müdigkeit: „Was hab ich mir schon den Mund fusselig geredet!“ Es stimmt schon: Über belanglose Dinge wie das Wetter, die Bundesliga, Sonderangebote im Supermarkt oder das Preis-Leistungs-Verhältnis in den hiesigen Restaurants, da lässt sich anscheinend oft stundenlang trefflich miteinander reden – aber über wesentliche, sehr persönliche Fragen und Probleme, da befällt uns oft eine große Stummheit.
Selbst Ehepartner klammern ja in ihrer Kommunikation oft ganze Bereiche unserer menschlichen Wirklichkeit aus. Oder wer hat es denn gelernt, wirklich offen und dennoch taktvoll über seine wirklichen Bedürfnisse oder auch Gefühle in seiner Sexualität zu reden? Bedürfnisse und Wünsche einander mitzuteilen? Oder wie sprachlos sind wir oft mit unseren Glaubenserfahrungen in Ehe und Familie? Wie viele wagen es denn allen Ernstes, dem Ehepartner oder den Kindern zu erzählen, wie es einem gerade mit Gott und dem Glauben an ihn geht?
Vielleicht spüren Sie ein wenig, dass die Welt sich gar nicht so einfach in Taubstumme einerseits und Gesunde andererseits einteilen lässt. Da sind die Übergänge meines Erachtens mehr als fließend und wir haben es zwischenzeitlich gelernt, als Gesunde sozusagen in großer Selbstverständlichkeit, mit unserer Sprech- und Hörbehinderung so umzugehen, dass es uns schlussendlich gar nicht mehr bewusst ist, woran unsere Kommunikation denn tatsächlich krankt. Unsere Art der Taubstummheit verbirgt sich mitten im Geschwätz und es gibt ja nun wirklich genügend Menschen, die es gera-
dezu meisterhaft verstehen, viel zu reden und dabei doch nichts zu sagen.
Taub und stumm – das können wir festhalten, trennt Menschen heute voneinander, und das trennt auch den Menschen aus unserem Evangelium von seinen Mitmenschen. Er kann nichts hören außer seinen eigenen Gedanken, kann mit niemandem reden, außer mit sich selbst. So von den anderen isoliert, kann er immer nur um sich selbst kreisen. Jeder Kontakt mit anderen ist ihm erschwert, ja beinahe unmöglich – und erschwerend komm hinzu, dass er in einer Gesellschaft lebt, in der seine Krankheit oder auch Behinderung als eine Strafe Gottes angesehen und gedeutet wird. So leidet er an einem der unmenschlichsten Leiden überhaupt: an dem Leiden der Beziehungslosigkeit. Getrennt von Menschen – unfähig für Beziehungen – abgeschnitten von Kontakten – taub und stumm! Aber das kann doch nicht unsere Bestimmung als Menschen sein – oder?
Als Christen glauben wir, dass Gott uns als sein Abbild geschaffen hat. Er hat uns im ersten Menschenpaar füreinander geschaffen und in diesem göttlichen Abbild die Gabe mitgegeben, wahrzunehmen, empfänglich zu sein, zueinander und zu ihm, zu Gott selbst, in Beziehung treten zu können. Statt taub und stumm hat uns der Schöpfer empfänglich und an-sprechend geschaffen! Wie tief müssen deshalb Erfahrungen sitzen, die Menschen dazu geführt haben, taubstumm zu werden – wohlgemerkt nicht als solche geboren zu werden – sondern zu werden und dann als Taubstumme leichter in der Welt zurechtzukommen? Wie groß müssen die Ängste davor sein, nicht mit dem bestehen zu können, was ich sage? Und wie laut sind wohl die inneren Stimmen, die uns daran hindern, diese paradiesische Bestimmung von befreiten Beziehungen zu leben?
Wie kann es uns nun aber gelingen, aus diesen angstbesetzten Räumen herauszutreten und zum Gespräch befreit zu werden? Der Taubstumme aus dem Evangelium kann am Ende der Geschichte wieder hören und sprechen. Lassen wir uns mit unseren Taubheiten und unserem Stummsein hineinnehmen in das Heilungsgeschehen, das zwischen ihm und dem Heiland Jesus geschieht und das in derselbe Weise auch mit uns heute geschehen kann. Zuallererst nimmt Jesus den Hilfsbedürftigen beiseite, weg von der lauten und gaffenden Masse. Er gewährt dem Taubstummen einen Schutzraum, indem es ganz nur um ihn selber geht und alle fordernden Ansprüche außen vor bleiben. Ein ganz neuer Horizont eröffnet sich so für den Kranken, denn abseits der Masse der Menschen kann Jesus ihm die Erfahrung vermitteln, dass in genau diesem Augenblick nichts und niemand auf der Welt wichtiger ist als er selbst und das, was er empfindet und was ihn bewegt. Wenn es in dieser, unserer Welt, ein Mittel gibt, den Kräften der Taubstummheit Herr zu werden, dann nur durch eine solch menschliche Nähe, wie Jesus sie schenkt. Verständnis, Geborgenheit, ja Zärtlichkeit (wenn wir an diese intime Berührung mit Speichel denken) – das ist all das, was die Nähe Gottes in dieser Szene wiederspiegelt und es ist vielleicht zum ersten Mal für den Taubstummen, dass er überhaupt auf diese Weise von einem anderen Menschen so wahr- und angenommen wird. Jesus spricht dabei nur ein einziges Wort: „Effata“ – „Öffne dich!“ Markus hat diesen Ruf wortgetreu, in der aramäischen Heimatsprache Jesu, überliefert. Effata – das macht deutlich: Heilung ist nicht mit einem Redeschwall von Formeln und guten Sprüchen zu erreichen, sondern einzig und allein durch die glaubwürdige und spürbar vermittelte Liebe Gottes.
Jesus verbietet, dieses wunderbare Geschehen in einer Art Propagandasprache nach außen zu tragen und dabei nur die menschliche Sensationslust zu befriedigen. Gott-sei-Dank haben sich die Menschen damals nicht daran gehalten, denn nur so haben wir Kunde davon bekommen, dass dieses Wort „Effata“ auch uns heute und hier gilt. Denn dieses Evangelium möchte uns einladen, dieses „Effata“ immer wieder füreinander zu sprechen und füreinander zu erbitten. So werden wir unserer Verheißung – befreite Menschen zu sein – näherkommen. Wir brauchen uns nicht in nichtssagendes Gerede zu flüchten; denn wir sind von Gott angenommen, so wie wir sind. Mit all unseren Gefühlen, mit all unseren Träumen und Wünschen, mit all unseren Problemen, Ängsten und Schwächen. Ja, wir dürfen einander zumuten mit allem, was uns bewegt. Und wenn wir so offen und ehrlich sind, dann können wir auch nie das Gesicht verlieren, denn in diesem – das ist uns zugesagt – spiegelt sich immer (wohlgemerkt immer) das Antlitz Gottes wider.
So sind wir heute eingeladen, uns von unseren Taubstummheiten befreien zu  lassen und auch anderen zu einem neuen Sprechen und Hören zu verhelfen. Wir sind berufen, wie Jesus, die heilende Nähe Gottes für unsere Mitmenschen spürbar werden zu lassen und damit jene Angst überwinden zu helfen, die menschliches Dasein verkümmern lässt. Und – dieses „Effata-öffne dich!“, das gilt auch für uns als Gemeinschaft der Kirche. Wir müssen uns öffnen für die Zeichen der Zeit, für die Anliegen und Sorgen der Menschen, auch wenn sie sich oft in einer unbeholfenen Sprache äußern. Öffnen wir als Kirche und als Christen Ohren und Mund, damit wir mutig und unbeirrbar, ohne Engstirnigkeit und mit viel Phantasie die Liebe Gottes verkünden. Dann spüren Menschen auch heute, dass das Reich Gottes angebrochen ist – in Ihnen, in mir, in allen, die uns begegnen.

Infos unter:

Erstellt am: 09.09.2012 17:59 Uhr

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