L I: Dtn 30, 10-14 / Ev: Lk 10, 25-27
Schwestern und Brüder!
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die wir eben im Evangelium gehört haben, ist eine von den Geschichten im Neuen Testament, die uns so bekannt und geläufig sind, dass wir uns längst einen Reim darauf gemacht haben, wie wir sie wohl zu verstehen haben. Schade dabei, wenn dadurch – also durch allzu viel Altbekanntes – die Brisanz und auch die Provokation eines solchen Gleichnisses leidet oder gar ganz verloren geht. Diese Gefahr besteht zweifellos auch hier, weil uns von Kindesbeinen an eindeutig klar und vertraut ist, dass uns mit diesen Zeilen die Nächstenliebe nahegerbacht bzw. ein größeres Engagement in Sachen Nächstenliebe eingefordert werden soll. Wir Christen dürfen und sollen eben nicht – wie der Tempeldiener und auch der Priester – einfach an den Notleidenden vorbeigehen, sondern wir haben uns tatkräftig um solche Menschen zu kümmern; genauso wie jener Mann aus Samarien. Natürlich ist das unsere Pflicht als Christen, gar keine Frage. Aber ist das wirklich der einzige Gedanke, den wir diesem Evangelium entnehmen können? Und ist es einzig und allein der Gedanke nach einer größeren moralischen Verpflichtung dem Nächsten gegenüber, der diesen Zeilen zugrunde liegt?
Beim weiteren Nachdenken darüber kam mir in der Vorbereitung plötzlich der Einfall: Dieses Gleichnis enthält nicht wirklich nur diesen Appell zur Nächstenliebe; nein, es enthält ein ganzes Programm – eine Maxime für meine eigene christliche Lebenspraxis und Grundsätze für ein kirchliches Handeln insgesamt. Keine Sorge, ich will jetzt den Ruf zur Nächstenliebe nicht ausblenden, weil es mir unangenehm wäre darüber zu predigen oder weil wir diesbezüglich ja immer hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben. Nein, ich möchte diese Gedanken mal ganz bewusst zulassen und ausweiten, weil sie uns das Gleichnis nochmals anders vor Augen führen und neue Sichtweisen aufzeigen. Lassen Sie mich also anhand von drei Leitsätzen diese Überlegungen einfach mal etwas näher beleuchten:
Der erste Leitsatz meint in meinen Augen: Nicht fertige Antworten sind in meinem Leben gefragt, sondern weiterführende Fragen. Jesus antwortet auf die Frage des Gesetzeslehrers: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ nicht sofort. Er fragt vielmehr zurück und lässt ihn erklären, woran er sich denn bislang in seinem Leben orientiert hat. Erst nach der zweiten Frage des Gesetzeslehrers: „Und wer ist mein Nächster?“ erzählt Jesus dieses Gleichnis und will am Ende wissen, ob sein Gegenüber daraus eine neue Erkenntnis für sich gewonnen hat. Jesus gibt also keine Antworten vor, er bürdet niemandem etwas auf, sondern er hilft vielmehr dem Fragesteller, seine eigenen und ganz persönlichen Antworten zu finden.
Genau so verstehe ich aber auch Christsein: Ich darf meinen eigenen Glaubensweg gehen. Jesus führt auch mich durch seine Worte und seine Gleichnisse zu einer ganz persönlichen Antwort auf die Frage: Wie gewinne ich ewiges Leben? Oder anders gesagt: Wie bekommt mein Leben einen Sinn, eine Tiefe, ein Gewicht? Wie kann es gelingen und wie kann ich mit meinem Leben vor Gott bestehen? Und auch die Kirche sollte und muss in dieser Weise an Jesus Maß nehmen. Sie weiß nicht schon alles im Voraus; sie wiederholt nicht nur Antworten, die früher einmal richtig waren. Nein, sie lässt sich durch das Evangelium immer wieder neu anfragen und herausfordern. Sie regt uns alle zur Suche nach der Wahrheit an und ermutigt so zu einem Leben im Sinne Jesu. Also: Nicht fertige Antworten sind gefragt, sondern ich erhoffe mir weiterführende Fragen, damit mein Christsein intensiver und die Kirche als Volk Gottes glaubwürdiger wird.
Ein zweiter Leitsatz dieser Samariter-Geschichte könnte heißen: Nicht star-
re Gesetze, sondern situationsgerechte Entscheidungen. Was ich damit meine? Nun – Jesus sieht im Liebesgebot, übrigens wie auch der Gesetzeslehrer selbst, den Schlüssel zu allen anderen Geboten und Verboten des jüdischen Gesetzes. All diese 613 Vorschriften – oder sagen wir ruhig in unserem Verständnis – all diese 613 Paragraphen haben nur dann einen Sinn, wenn sie der Liebe in all ihren Dimensionen zum Durchbruch verhelfen. Sprich: Wenn sie Leben fördern und nicht einschränken; wenn sie die Freiheit des Einzelnen schützen und nicht behindern. Jesus will nun mit seiner Beispielgeschichte dem Gesetzeslehrer deutlich machen: Wer der Nächste ist, das lässt sich nicht gesetzlich regeln. Jeder der in Not ist und jede die mich braucht, wird mir zur oder zum Nächsten. Die ersten Fragen dürfen also nicht heißen: Was verlangt das Gesetz von mir? Wozu verpflichtet es mich? Oder auch: Was darf ich und was darf ich nicht? Nein, die erste Frage muss unbedingt lauten: Was ist hier und jetzt not-wendig, was ist hier und jetzt not-wendend?
So verstehe ich jedenfalls unser Christsein: Ich muss diese Welt nicht durch die Brille vieler Vorschriften oder auch Verbote anschauen, sondern ich darf mich in jedem Augenblick fragen: Was entspricht jetzt dem Gebot der Liebe? Wie kann ich dazu beitragen, dass Leben sich entfaltet, Menschen Hilfe erfahren und befreit aufatmen können? Der heilige Augustinus hat das großartige Wort geprägt: „Liebe und tue was du willst!“ Das allein muss uns schon vor jeder ängstlichen Art von Fixierung auf enge Gebote und Denkmuster warnen und bewahren. Deshalb stelle ich mir auch ganz bewusst eine Kirche vor, die an Jesus selbst Maß nimmt. Eine Kirche, die eben das dynamische Leben und eine sich ständig verändernde Wirklichkeit nicht in ewig gültige Normen presst – quasi ein für alle Mal – sondern die mir und die auch Ihnen zutraut, sich in den verschiedenen Herausforderungen des ganz persönlichen Lebens für das zu entscheiden, was im Sinne Jesu gut und richtig ist. Also: Nicht starre Gesetze, sondern situationsgerechte Entscheidungen wünsche ich mir, damit der Geist der denkerischen und praktischen Freiheit in der Kirche weht und damit mutige und vorausdenkende Christen in ihre einen Platz finden.
Und die dritte Devise bzw. der dritte Leitsatz, den ich in diesem Gleichnis entdecke, heißt: Nicht fromme Sprüche, sondern menschliche Gesten! Ist Ihnen das auch aufgefallen? Jesus nimmt im heutigen Evangelium das Wort „Gott“ nicht ein einziges Mal in den Mund. Vielmehr erzählt er eine Alltagsgeschichte, in die sich seine Zuhörer gut hineindenken können. Aber auch ohne Gott wirklich im Mund zu führen, ist dessen Nähe und Anwesenheit in diesen Zeilen jederzeit spürbar. Zum Beispiel in der Art, wie Jesus dem Gesetzeslehrer eine neue Perspektive eröffnet; oder im Mitleid des Samariters und auch in seiner ganz konkreten Hilfe für den Überfallenen. Zweimal will Jesus den Gesetzeslehrer zur Tat bewegen: „Handle nach dem Liebesgebot; handle wie der Samariter“ – rät er ihm. Ergo: Nicht durch fromme Worte oder Sprüche, sondern durch menschliche Gesten wird Gott hier hörbar, spürbar, erfahrbar und erlebbar.
Aber genau so soll Christsein sich zeigen: Ich muss nicht ständig von Gott reden. Nein, in der Art, wie ich lebe, wie ich zuhöre oder auch auf andere zugehe, kann er zum Vorschein kommen. Wie wünschte sich der Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti einmal das Christsein? „Dass Gott ein Tätigkeitswort wird!“ Und einer meiner Lieblingssprüche lautet: „Rede von Christus nur, wenn du gefragt wirst. Aber lebe so, dass man dich fragt.“ Und das gilt natürlich auch für die Kirche. Auch sie soll in der Weise an Jesus Maß nehmen. Sie soll nicht allzu vollmundig und allzu allwissend von Gott reden, sondern ihn in unseren Gemeinden und Gemeinschaften durch eine offene und gastfreundliche Atmosphäre erfahrbar werden lassen. Sie soll Sorge dafür tragen, dass in den hochehrwürdigen Mauern unserer Kirchen und in den Zellen unserer Gemeinden die Menschenfreundlichkeit Gottes erahnt und erspürt werden kann. Wenn uns einer fragt, wie unser Gott ist, dann müssten wir eigentlich nur antworten: Sieh unsere Gottesdienste und unser Leben, wie wir uns um Menschen mühen, wie wir mit Konflikten umgehen, mit eigener und fremder Schuld, …wie wir Frieden zu stiften versuchen … dann weißt du, wer und wie unser Gott ist…. Also: Nicht fromme Sprüche, sondern menschliche Gesten helfen den Menschen und mir, et
was von der Liebe Gottes im hier und heute zu erspüren.
So bin ich jetzt am Ende meiner – zugegebenermaßen – etwas anderen Gedanken zu diesem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Aber nichtsdestotrotz ist mir bei all dem bewusst geworden: Dieses Gleichnis ist nicht nur eine Geschichte im Mund Jesu, ein Appell zu mehr Menschlichkeit gegenüber unseren Nächsten – nein, dieses Gleichnis kann zum Programm für mein eigenes Christsein, zum Programm für unsere Kirche werden. Wie? Durch uns – durch Sie und durch mich! Amen.
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Erstellt am: 15.07.2013 15:48 Uhr