L I: Weis 1, 13-15; 2, 23 f /Ev: Mk 5, 21-43
Schwestern und Brüder!
Gleich zwei Frauen stehen im heutigen Evangelium im Mittelpunkt. Jede von ihnen hat ihre ureigene Biographie, aber dass sie sich nicht entfalten, ihre Gaben oder auch ihre Talente nicht einsetzen können, das verbindet sie. Zwei Menschen begegnen uns, die wir und die sich nicht kennen, deren Lebenswege sich aber im Gedränge eines Volksauflaufes kreuzen und total verändern. Lassen wir uns mal darauf ein und schauen wir, ob sich bei uns und in unserem Denken etwas verändert…
Die eine der beiden ist eine junge Frau; in unseren Augen ist sie sogar fast noch ein Kind. Allerdings war damals ein Mädchen mit zwölf Jahren durchaus auf dem besten Wege erwachsen zu werden, weil es eben das Alter war, in dem man sie bereits zur Verlobung oder gar zur Vermählung in den Blick nahm. Für den gebildeten Vater, der uns als Synagogenvorsteher vorgestellt wird, ist dieses Loslassen wahrscheinlich immens schwer; auf jeden Fall machen seine Aussagen und Gesten doch mehr als deutlich, wie sehr er an seinem „Töchterchen“ hängt. Intensiv hat er sie aufs Leben vorbereitet und jetzt wird sie lernen müssen, ihre eigenen Schritte zu gehen. „Groß heraus kommen durch Kleinhalten“, das jedenfalls eröffnet keine Lebensmöglichkeiten. So können keine kraftvollen und selbstbewussten Menschen heranwachsen und mit offenen Augen ihr Leben angehen und meistern. Doch jetzt, jetzt hat der Vater noch die Verantwortung und der macht sich große Sorgen. Das Leben der Tochter hängt an einem seidenen Faden; der Tod steht vor der Tür.
Die andere Frau ist schon ein wesentliches Stück weiter in ihrem Leben. Niemand nennt sie mehr „mein Kind“ oder „meine Tochter“ – aber ist sie dadurch in ihrem Leben freier und selbständiger? All die Jahre ist sie von Arzt zu Arzt gelaufen, hat viel Geld auf der Strecke gelassen, jeden noch so kleinen Strohhalm ergriffen – aber ohne jeden Erfolg. Müde ist sie geworden und blass. Sie sieht schlecht aus – auch durch ihre ständige Regel-Blutung. Vielleicht hätte sie ja irgendwann mal damit leben können, aber die Gesetze und Regeln in ihrem Land und in ihrer Religion machten sie mit dieser Krankheit „unrein“ und schlossen sie so aus dem gesellschaftlichen Leben aus. Zurückgezogen musste sie leben, durfte von niemandem berührt werden und auch nicht berühren, am normalen Leben der Menschen konnte und durfte sie so nicht teilnehmen. Was das für sie bedeutete? Jahre der Isolation. Wie kann sie denn da noch Freude oder auch Lebenslust ausdrücken oder empfinden? Mehr noch: Wie kann sie selbst Lebensfreude schenken? Sie ist eine Unberührbare geworden, ein „jemand“ am Rande der menschlichen Gemeinschaft; eine „persona non grata“, die sich selbst schon gar nicht mehr als Mensch sieht.
Zwei Frauen also – die eine zwölf Jahre alt und eigentlich kein Kind mehr. Sie steht auf der Schwelle, die die Kindheit vom Erwachsensein trennt – aber genau dieser Schritt scheint ins Leere zu gehen. Sie ist Tochter eines hoch gestellten und hoch angesehenen Mannes, aber welches Leben wird, welches Leben soll sie haben? Wird sie überhaupt ein eigenes Leben haben? Der Tod hat sich herangeschlichen und lauert in der Nähe. Und die andere Frau: Zwölf Jahre lang krank! Mit dem Blut, das sie verlor, verlor sie auch das Leben als Frau. Was ist das für ein Leben? Zwölf Jahre währt dieser Kampf. Gibt es da für sie noch eine Chance auf ein gelingendes Leben – eine Chance, neu aufzublühen?
Zwei Frauen in derselben Stadt – beide sind in ihren Lebensmöglichkeiten ernsthaft bedrängt und gefährdet. Die eine wird für tot erklärt, die andere ist es – im übertragenen Sinne – doch schon lange. Aber dann passiert etwas…
In diese Stadt kommt Jesus von Nazareth. Sein Ruf eilt ihm weit voraus und
deshalb versammeln sich sofort Menschen um ihn bzw. ziehen immer mehr Menschen mit ihm mit. Er spricht befreiende Worte, er geht auf die Menschen zu und auf ihre Anliegen und Sorgen ein. Es scheint etwas an ihm zu sein, wodurch Menschen einfach auf- und durchatmen können; wodurch sie eine andere, eine neue Lebensperspektive bekommen. Das sieht auch der Vater des Mädchens so. Sein Name ist „Jairus“, was so viel heißt wie „Gott wird erstrahlen“ oder auch „Gott wird erwecken“. Das ist für diese Geschichte natürlich nicht ohne Bedeutung. Und auffällig ist ja auch, dass er der einzige ist, der mit Namen genannt wird. Warum? Nun ich denke, dass wir wissen, dass es Gott ist, der erstrahlt, der erweckt und auferweckt! Als Vorsteher der Synagoge ist Jairus ein angesehener Mann. Doch vor Jesus zeigt er sich klein und bittend. Er spricht ihm gegenüber sein Vertrauen und seine ganze Hoffnung aus – und daran kann Jesus doch nicht vorbeigehen! Aber die andere Frau hat nichts, um sich vorne hinstellen zu können. Sie hat auch niemanden, der für sie eintritt – und doch ergreift sie ihre Chance.
Als Jesus auf dem Weg zum Haus des Jairus ist, da lässt sie sich im Gedränge nicht davon abhalten, mit Jesus in Berührung zu kommen. Wahrscheinlich nähert sie sich ihm mit Angst und Zittern; schließlich kennt sie diesen Menschen ja nur vom Hörensagen, genau wie all die Gerüchte, die über ihn und sein Wirken im Umlauf sind. Sie will nicht auffallen, will nur den Zipfel seines Gewandes berühren, er braucht es doch gar nicht zu wissen. Und dieser Mut und dieses Vertrauen zahlen sich aus. Jesus hat sie gespürt und er will wissen, wer ihn berührt hat. Er will nicht anonym, quasi im Vorbeigehen heilen, sondern er will den Menschen ins Gesicht sehen. Er will nicht nur Berührung, nein er will Beziehung. Nicht durch die Berührung wird die Frau nämlich rein, sondern durch die Beziehung mit ihm.
Ist Ihnen aufgefallen, dass Jesus diese Person „Tochter“ nennt? Ich finde es interessant, denn Markus berichtet ja immer nur von der Frau. „Tochter“ aber sagt doch aus, dass sie behütet und beschützt ist, dass sie nicht allein steht. Vielleicht will Jesus ihr damit sagen: Ich lass dich nicht einfach stehen. Du gehörst zu meiner Familie. Du, die du von den Menschen für tot erklärt wurdest, weil du so krank bist, dir sage ich: Tochter, Kind Gottes, dein Vertrauen in mich, dein Vertrauen in Gott rettet dich. Steh auf und geh mit Zuversicht weiter in deinem Leben, auf dass es sich verändert.
Und dann kommt Jesus in das Haus der jungen Frau. Von ihrer Krankheit wissen wir nichts, wir erfahren nur – wie beiläufig – dass sie bereits gestorben ist. Also zu spät – in unseren Augen. Aber Jesus? Er sagt nur: Sie schläft. Mit anderen Worten: Er sieht Leben, das nur aufgerichtet, das neu geweckt werden muss, damit es aufstehen und gelingen kann. Oder anders gesagt: Jesus nimmt Menschen wahr, die von anderen für tot erklärt werden, die aber durchaus Leben in sich tragen und ihre Zukunft nicht aufgeben müssen. Auch wenn die anderen es nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen, da nimmt er das Leben ernst. Auch wenn Menschen aneinander vorbeilaufen, wenn nichts mehr erwartet wird und nur noch Schmerzen aufkommen, weil man meint, immer nur Pech im Leben zu haben – da will Jesus die Menschen zu ihrem Recht kommen lassen. Auferstehung zum Leben, Auferstehung ins Leben beginnt eben immer mit Aufstehen!!
Ich glaube, dass ist das was uns Markus auch mit der Vermischung dieser beiden Wundergeschichten sagen will. Jesus leidet mit Menschen und lässt sich ansprechen. Er läuft nicht vorbei, sondern sieht hin. Und für uns bedeutet das: Vertrau Dich ihm einfach an. Jemand, der den Menschen so sieht, kann es doch nur gut mit Dir meinen!! Wenn andere Dich aufgeben; wenn andere keine Möglichkeit mehr für Dich sehen, dann ist er es, der Dich aufrichtet und Dir das Leben zurückgibt. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Jesus ist kein Zauberdoktor – auch wenn ihn der ein oder die andere von uns vielleicht aufgrund seiner Wunderheilungen am liebsten so sehen will. Aber ich denke und glaube, dass Jesus einfach auch die Kräfte in uns selbst wecken will. Das Aufstehen – und das wird an beiden Erzählungen deutlich – beginnt bei den Menschen selbst. Sie wagen den ersten Schritt. Einmal der Vater, der für seine Tochter auf die Knie geht und die Frau, die gegen alle Regeln aus dem Schatten ihres Lebens tritt und sich nach vorne wagt. Und diese Geschichte macht auch deutlich: es sind Frauen, die mit Jesus auf ihr Leben schauen und ihr Vertrauen auf ihn richten: Rühr mich an, richte mich auf! Sie stehen stellvertretend für viele andere Frauen damals, die unter der Gleichgültigkeit oder Unterdrückung der Männer gelitten haben und sie stehen heute für all die Menschen, denen das Leben nicht mehr glückt, die verneint und klein gehalten, nicht wahrgenommen und für tot erklärt werden. Doch Jesus berührt sie und sagt: Steht auf – damals wie heute! Durch sein Wort, in seinen Sakramenten und durch Menschen wie Sie und mich! Amen.
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Erstellt am: 01.07.2012 19:31 Uhr
