L I: Röm 8, 14-23 / Ev.: Joh 14, 1-6
Schwestern und Brüder!
Allerseelen – so herrscht bei vielen die landläufige Meinung vor – ist der kirchliche Gedenktag für all die Menschen, die bereits gestorben sind. Das ist sicherlich korrekt – aber ist damit wirklich bereits der ganze Gedenktag erfasst? Was mich nämlich wundert ist: Dass die wenigsten – auch unter uns Christen – der Ansicht sind, dass das auch etwas mit uns und unserem Sterben zu tun haben könnte. Und weshalb? Weil wir Menschen mit Tod und Sterben eben ganz unterschiedlich umgehen. Für die einen war und ist dies bis heute ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres menschlichen Lebens. So wie uns zum Beispiel bei unserer Geburt das Leben ohne unser eigenes Zutun geschenkt wird, so wird es uns eines Tages eben auch wieder genommen werden. Häufig erleben wir allerdings auch, sei es nun bei Menschen in unserer Umgebung oder vielleicht sogar bei uns selbst, dass der Tod etwas mehr als Bedrohliches an sich hat; etwas, das Angst machen kann. Wer so empfindet, für den ist der Tod natürlich eine Wirklichkeit, die es auszugrenzen oder zu verdrängen gilt. Deshalb möchten auch manche Menschen vom Tod nichts wissen und am liebsten auch nicht über ihn sprechen – schon gar nicht, wenn man wunderschöne Tage auf einer Ferieninsel erlebt. Aber: Es ist eben nun mal nichts in unserem Leben so sicher wie der Tod. Wir alle, Sie und ich, werden ihm nicht entkommen. Wir alle werden mit dem Tod immer wieder Bekanntschaft machen müssen, sei es nun beim Tod naher und lieber Angehöriger oder auch von Freunden und Bekannten, sei es ganz persönlich in unserem je eigenen Sterben.
Der Tod – und daran erinnert uns dieser heutige Tag – reißt Lücken in unser Leben; er entreißt uns Menschen, die wir lieben; Menschen, denen wir viel verdanken, mit denen wir gelebt, gelacht, gestritten und uns wieder vertragen haben – Menschen, mit denen wir einfach gerne zusammen waren. Die Lücken, die der Tod reißt, sind nicht so einfach zu schließen; denn die Menschen, die uns genommen werden, sind nicht zu ersetzen – sie werden uns das ganze weitere Leben fehlen; genau so wie es viele von uns es bis heute oft mehr als schmerzlich erfahren. Deshalb ist es aber auch so immens wichtig, dass es einen Tag, wie den heutigen gibt; einen Tag, an dem einerseits Trauer und Erinnerung ihren Platz haben, an dem wir aber auch darüber nachdenken sollten, dass der Tod nun mal unsere ureigene Lebenswirklichkeit betrifft.
„Dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind“, wie es ein altes Kirchenlied zum Ausdruck bringt, das verdrängen wir ganz gerne. Klar ist ja auch: Wir wissen nicht, wie nahe er uns ist oder wann er denn vor unserer je eigenen Tür steht. Wir wissen auch nicht, welches Gesicht er uns zeigen und wie er uns begegnen wird – all das steht in den sprichwörtlichen Sternen. Nur, dass er kommt, das ist sicher – das ist sogar todsicher! Dabei ist letztlich nicht schlimm, dass wir gehen müssen, denn das ist ja nun unser aller Schicksal. Bedenklich ist vielmehr, wenn wir uns mit dem Tod nicht vertraut gemacht haben. Wie bittet und betet Rainer Maria Rilke: „Herr, gib jedem seinen eigenen Tod.“ Ja, wenn es uns gelingt, den Tod anzunehmen, dann können wir ihn auch bewältigen und bestehen. Denn dann entdecken wir eine Wirklichkeit in uns, die alle Angst besiegt.
Deshalb sollten wir, was unser eigenes Lebensende anbetrifft, nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Denn das gehört ja auch zu unserer Menschenwürde: Dass wir uns nicht nur wahrhaftig und mutig für unser Leben einsetzen, sondern dass wir auch für unser Sterben Verantwortung übernehmen. Und Letzteres wird dabei immer wichtiger. Denn je mehr Möglichkeiten die Intensivmedizin bietet, Leben zu verlängern oder auch Leben zu erhalten, umso wichtiger ist es, sich rechtzeitig zu überlegen, ob ich diese Möglichkeiten wirklich in Anspruch nehmen möchte oder unter welchen Bedingungen ich eben genau darauf verzichten möchte. Es liegt also an uns, ob wir für das Lebensende Vorsorge treffen und unser Haus bestellen – zum Beispiel mit einer Patientenverfügung oder dass wir in einer Vollmacht klar definieren, was uns denn für unsere letzte Wegstrecke wichtig ist. Auch ein Testament kann deutlich zum Ausdruck bringen, was für uns nach dem Tod noch von Interesse ist.
Ein Gedicht von Hilde Domin beginnt mit den Worten: „Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum: so als bliebe die Wurzel im Boden.“ Das heißt nichts anderes, als dass man bereit sein muss zum Abschied aus dieser Zeit. Deshalb ist die Annahme der eigenen Sterblichkeit das eine, die Vorbereitung und die Einübung ins Sterben, das andere. Beides braucht Zeit. Je früher wir uns mit diesen Fragen und den entsprechenden Gefühlen auseinandersetzen, desto besser – so raten es uns zumindest Fachleute. Am besten dazu ist die Lebensmitte. Wer sich dann aber in der zweiten Lebenshälfte immer noch vor der Auseinandersetzung drückt oder scheut, zahlt einen hohen Preis. Denn die Frucht des Lebens – jedes eigenen Lebens, kann anders nicht reifen.
„Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum.“ Fest verwurzelt in der eigenen Lebensgeschichte. Darum wissend, dass die Eltern einem das Leben geschenkt haben und für einen da waren. Darum wissend, dass unsere Eigenart, unsere Haltung und auch Werteordnung von der Familie, von den Vorfahren zutiefst geprägt worden sind. Darum wissend, dass unsere Lebenserfahrungen – die guten und die weniger guten – uns zu einer Persönlichkeit haben reifen lassen, die einmalig und einzigartig ist. Wer nun aber so zu sich stehen kann, der kann angesichts des Todes auch die eigenen Lebenswege und Lebensabschnitte immer wieder an sich vorbeiziehen lassen und dabei dieses Unverwechselbare, das ganz Eigene seines Lebens
entdecken.
Und dann wird die Zeit kommen, wo wir gleichsam den Atem anhalten und alles Bisherige loslassen werden, um dann nur noch die fremde Erfahrung des absolut Neuen machen zu können. Eine – wie viele Nahtoderfahrungen es zumindest immer wieder deutlich machen – anscheinend unglaublich beglückende Erfahrung, die das Ganze unseres Lebens in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt.
Das also gilt es immer wieder einzuüben, bis es dann ein letztes Mal geschieht: Den Atem anhalten, ganz da sein und im Ausatmen loslassen, „bis wir zu Hause sind, wo immer es auch sei.“ Das ist der Kern dessen, was menschenwürdig leben und menschenwürdig sterben ausmacht. Denn: So wichtig und entlastend es auch ist, in schweren Lebenssituationen von einfühlsamen und liebenswerten Menschen unterstützt und begleitet zu werden; die letzte Wegstrecke angesichts des Todes, die macht einsam – weil sie jede und jeder von uns alleine bewältigen muss.
Wo wir letztlich endgültig zu Hause sein werden, wissen wir nicht. Die Bibel versucht zwar Bilder zu entwerfen, die uns helfen können, eine gewisse Vorstellung zu entwickeln. Aber es bleibt eben nur eine Ahnung von dem, was sein wird. Es wird ein Ort der Ruhe und des Friedens sein; ein Ort, an dem wir mit uns und unserer Lebensgeschichte versöhnt sind; versöhnt auch mit anderen und vor allem mit Gott. Es ist der Ort, an dem wir das erfahren, was uns als Kinder glücklich sein ließ: Das erleben von Geborgenheit, Vertrauen, Schutz und Liebe. Gott selbst wird uns dies sein und ich glaube fest daran, dass all die lieben Verstorbenen, derer wir heute gedenken, diesen Ort und diesen Platz gefunden haben.
Allerseelen – mich erinnert dieser Tag nicht nur an die Menschen, die mir der Tod bereits genommen hat, sondern auch daran, dass menschenwürdig leben und menschenwürdig sterben untrennbar zusammengehören. Das Sterben ist Teil unseres Lebens. Deshalb gibt es auch nur ein Ziel: Den Grenzübergang unseres je eigenen Lebens nicht aus den Augen zu verlieren und auf den zu vertrauen, der diese Grenze für uns so überwunden hat,
dass sie vom endlichen zum unendlichen Leben in Fülle führt. Amen.
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Erstellt am: 03.11.2014 19:10 Uhr