Von Pfarrer Johann Weingärtner
JOHANNES 9, 35-41
35 Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn?
36 Er antwortete und sprach: Herr, wer ist’s?, dass ich an ihn glaube.
37 Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s.
38 Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
39 Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.
40 Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind?
41 Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.
Um den richtigen Durchblick geht es, liebe Gemeinde. Wohl auch die richtige oder falsche Sicht der Dinge. Vielleicht sogar um tiefere Einsichten. Nahezu alle Bibeltexte dieses Sonntags handeln vom Blick auf Menschen, die in ganz besonders bedrängten Situationen leben oder leben müssen. Sie suchen nach Auswegen, möchten Klarheit für sich oder andere gewinnen. Eben den Durchblick haben.
Kennen wir das? Sind unsere Erfahrungen, die wir in Vergangenheit und Gegenwart machen oder gemacht haben, nicht oft genug oder zumindest gelegentlich von undurchsichtigen Schleiern verhüllt?
Ich möchte Klarheit für mich und meine Leben – so sagen Menschen, die nicht mehr durchblicken, weil sich keine Perspektiven mehr ergeben, auf die zu vertrauen sich lohnte.
Ich möchte wenigstens einmal wissen, wo es mit mir lang gehen soll – so sagen Menschen, die oft auf die Nase gefallen sind, weil Ihnen nichts oder kaum etwas gelungen ist, auf das sie bauen geschweige denn stolz sein können.
Es wäre so schön, wenn es doch für mein Kind eine Zukunft gäbe – so sagen Eltern, die die Erfahrung gemacht haben, dass das Liebste, was sie hatten, sein Leben regelrecht in den Sand gesetzt hat und nun nicht mehr weiß, wie es da herauskommen soll.
Was hilft da? Sicherlich am wenigsten Menschen oder angeblich hilfreiche Zeitgenossen, die mit großer Überzeugungskraft behaupten, dass sie es schon wüssten und dann mit einem riesigen Schwall von Ratschlägen über nach Hilfe und Rat Suchende herfallen. O ja, das kann sogar sehr wehtun. Ratschläge sind eben oft genug auch nichts anderes als Schläge.
In den beiden Bibeltexten für den heutigen Sonntag begegnen uns diese genannten Menschengruppen. Auf der einen Seite verzweifelte, die nach Auswegen suchen und auf der anderen die Besserwisser oder sogar die Verweigerer der so nötig gebrauchten Hilfe. Und ganz merkwürdiger Weise scheint Jesus in dem vorhin gehörten Evangelium von der um Heilung für ihre Tochter bettelnden Mutter sogar auf der eher ablehnenden Seite zu stehen. Er scheint die Sicht der elitären Religionsführer seines Volkes zu teilen, dass die messianischen Wohltaten nur dem ihren zu gelten haben. Gott sei Dank, es schien nur so. Am Ende gewährt er Hilfe und Mutter und Tochter blicken wieder durch, haben freie Sicht auf ein nun menschenwürdiges, schöpfungsgemäßes, weil geheiltes Leben.
Ein wenig komplizierter geht es in der Geschichte mit dem blinden jungen Mann zu, die den Predigttext für den heutigen Sonntag darstellt. Um sie komplett zu verstehen, muss ich die Vorgeschichte kurz erzählen.
Jesus begegnet einem jungen blinden Bettler. Unter den Jüngern geht die Problemdiskussion los, wer denn nun wohl schuld an dieser Blindheit sei. Der junge Mann selber oder seine Eltern? Etwa nach der Methode, die wir aus dem
Alten Testament kennen, dass Gott die Sünde der Väter heimsucht und damit ahndet bis in die 3. und 4. Generation hinein.
Jesus lässt sich nicht auf diesen theologischen Diskurs ein. Er sieht wohl nur diesen armen Kerl, der keine Perspektive für sein Leben hat. Der blickt nicht durch. Wie soll er das denn auch, wenn er nicht sehen kann. Ihm bleibt nur die Bettelei. So kann das gehen angesichts manchen Unheils, das uns in die Augen springt. Die Schuldfrage muss geklärt werden. Und weil die selten eindeutig ist, kann man viel Zeit damit zubringen, in der so mancher sterben muss, weil mal wieder nur geredet und nicht gehandelt wird.
Jesus reagiert anders. Er besinnt sich auf seine messianische Sendung, die da sagt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden geheilt. Tote stehen auf und den Armen gilt die Gute Nachricht von der Menschenfreundlichkeit Gottes. So geht er auf den Blinden zu, versorgt die erloschenen Augen mit einem heilkräftigen Brei und siehe, mit wenigen Mitteln ist das Licht der Augen hergestellt. Übrigens die bekannte Christoffel – Blinden – Mission, die in vielen Ländern tätig ist, um durch kleine operative Eingriffe das Augenlicht vieler Erblindeter wieder herzustellen, beruft sich immer wieder gerne – und das mit Fug und Recht – auf diese Geschichte.
Eigentlich wäre doch nun alles gut gewesen. Aber eben nur eigentlich. Nun treten die Bedenkenträger und Kritiker, die immer noch gerne über die Schuldfrage an der Blindheit weiter diskutieren möchten, auf den Plan. Sie unterziehen den Geheilten einem intensiven Verhör. Denn was nicht sein kann, eben auch nicht sein kann. Es muss doch öffentlich dokumentiert werden: Wer Böses erlebt und wessen Leben vor die Hunde geht, der trägt ein gerüttelt Maß selber schuld daran, oder sein Umfeld, vor allem seine Familie haben ihren Anteil an der Misere, und der darf nicht verschwiegen werden. Einfach hingehen und helfen, ohne vorher die gesamte individuelle biographische und soziologische Situation gründlich analysiert zu haben, das geht nicht. Außerdem muss die religiös abgesicherte Deutung noch formuliert werden.
Und so gerät der Geheilte erst einmal wieder so richtig zwischen alle Mühlsteine, als ob seine lange Blindheit nicht schon hart genug gewesen wäre.
Fromme Besserwisser und selbst ernannte Hellseher – so nenne ich sie mal – treten auf den Plan. Einige behaupten, dass der junge nun sehende Mann gar nicht der Blinde gewesen sein kann. Und dann kommen die besonders gut durchblickenden Pharisäer dem messianischen Heiler Jesus auch noch auf die Schliche. Die besagte Heilung, wenn sie denn überhaupt stattgefunden hat, geschah an einem Sabbat, und das geht ja nun gar nicht, denn da hat alle Arbeit zu ruhen. Auch die Praxen sind geschlossen.
Ach ja, liebe Gemeinde. Das kann in der Tat passieren, dass notwendige Schritte zur Besserung menschlicher Situationen zerredet werden, wenn sie nicht von den richtigen Leuten mit den richtigen Mitteln zur vermeintlich richtigen Zeit gegangen worden sind. Als ob es darauf ankäme, wenn Gutes geschehen soll. Wie hat Erich Kästner einmal gesagt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Wie anders die Pharisäer. Jesus hat am Sabbat geheilt, also kann die ganze Sache nur eine undurchsichtige Finte sein.
Nun werden auch noch die Eltern herbeizitiert – sie können ja durchaus mitschuldig sein – und werden befragt, ob der Geheilte überhaupt ihr Sohn sei und wie das mit der Heilung sich ereignet habe. Jetzt bekommen die Eltern Angst. Sie ziehen sich die Schultern zuckend zurück mit der Bemerkung: Der Sohn sei alt genug, er könne für sich selber reden. So weit kann es kommen, dass familiäre Bindungen leiden, wenn alles, was helfen kann und Heilung bringt, zerredet, auf Rechtmäßigkeit überprüft und an religiösen Standards gemessen wird.
Wer soll da noch durchblicken? Jedenfalls endet die ganze Angelegenheit ziemlich tragisch. Die Pächter der religiösen Wahrheiten berufen sich auf Moses, in dessen Schriften die Schuldverstrickung festgehalten ist, der geheilte junge Mann beruft sich Jesus, der ihm das Licht des Lebens gegeben hat. Und so kommt, was kommen muss: Der junge Mann wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Wer die richtige Sicht der Dinge für sich meint reklamieren zu müssen, der kann niemanden vertragen, der plötzlich nach langer Blindheit eine ganz neue Sicht für das Leben und die Welt gewonnen hat. Denn das wäre ja noch schöner, wenn einer, der gerade mal sehen gelernt hat, uns weis machen möchte, wo der Weg langgeht. Das wäre ja noch schöner. So ein Jungspund will uns sagen….
Nun aber kommt dieser Skandal vor Jesus.
Und der wendet sich zunächst an den geheilten jungen Mann. Der ist ihm am wichtigsten, denn was der soeben durchgemacht hat, ist nicht gerade einfach gewesen. „Warum können sich die Leute nicht mit mir freuen, dass ich das Licht sehen kann und die Farben und die Gesichter all derer, die ich bisher nur im wahrsten Sinne vom Hörensagen kannte? Und diese Wahrnehmung ist ja nicht ungefährlich, sie kann täuschen, in die Irre führen. Selbst sehend am Geschehen beteiligt sein, das ist doch das Entscheidende im Leben. Und warum gönnen mir diese merkwürdigen Fragesteller das nicht einfach?“ So mag er gedacht und gefragt haben.
Jesus, der ihm nun wieder gegenüber steht fragt einfach nur: Glaubst Du an den Menschensohn? Das ist nun wieder eine schwierige Frage. Und so auch die Antwort des geheilten jungen Mannes: „Wer ist denn das? Zeige ich mir und will an ihn glauben.“ Und dann weist Jesus einfach auf sich selber hin: „Er steht vor dir.“ Einige Male kommt dieser Begriff im Blick auf Jesus bei Johannes vor. An drei besonders prägnanten Stellen. Er bricht und teilt das Brot unter die vielen aus. Gibt also das zum Leben Notwendige, und sagt am Ende von sich selbst: Ich bin das Brot des Lebens. Er hält Gericht – so wird an anderer Stelle gesagt. Er unterscheidet, vor allem Licht von Finsternis, Irrtum von Wahrheit, er sorgt für klare Verhältnisse, wenn es um Gott und die Menschen geht.
Und dann kommt dies Wort in unserer Geschichte vor. Er, der Menschensohn ist der von Gott Gesandte, um zu heilen, zurecht zu bringen, sehend zu machen, aber eben auch mit Blindheit Geschlagene zu entlarven.
Nun fällt es dem sehend gewordenen jungen Mann nicht mehr schwer, sein Bekenntnis zu formulieren: „Herr, ich glaube“, und betete ihn an. So einfach kann das sein, wenn einer im Blick auf den Glauben und das Begreifen für Klarheit sorgt: Gutes tun – Kritiker und religiöse Besserwisser entlarven – Einladen zum Vertrauen und Beten. Einer hat es begriffen und blickt durch.
Und nun ändert sich die Blickrichtung Jesu. Er nimmt die in Augenschein, die durch ihre Verblendung beinahe alles kaputt gemacht hätten. Zunächst klingen seine Worte geheimnisvoll. Seine messianische Sendung bezeichnet er als Rechtsprechung, wie in einem Gerichtssaal. Da soll ja bekanntermaßen die Wahrheit ans Licht kommen. Und so will Jesus es denn wohl auch verstanden wissen. Das ist ja noch akzeptabel. Aber nun wird es problematisch: Sehende sollen blind werden und Blinde sehend. Das zweite ist in Ordnung, aber das erstere? Will Jesus verblenden? Ist er ein Blender?
Die Pharisäer hören seine Worte. Sie waren wohl nahe dabei und ihnen entging ja in der Regel nichts, so wie all denen nichts entgeht, die gerne urteilen oder auch verurteilen. Die kriegen fast immer alles mit. War damals so und ist heute meist auch nicht anders. Und so fragen sie: Sind wir denn auch blind?
Ertappt – so würde ich sagen. Jesus hat sie einfach nur einen Sachverhalt dargestellt und zwar den, dass jene die meinen, alles richtig zu sehen und den rechten Blick auf die Dinge zu haben, manchmal blind für das wesentliche sind.
Wie sagt der kleine Prinz bei Antoine Saint de Exuperie so richtig: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Auf jeden Fall aber besser als mit einem noch so scharfen Verstand, der nichts anderes im Sinn hat als andere hinters Licht zu führen oder sie bei einem vermeintlichen Fehler zu erwischen.
Und nun ist es heraus: Die Pharisäer sind als die Blinden entlarvt. Hätten Sie dazu gestanden, dann wäre das nicht so schlimm. Wer seine Mängel einsieht, der kann davon befreit werden. Und sogar Blindheit – vor allem im übertragenen Sinn – kann geheilt werden. Aber hochmütiges Behaupten, dass man allein den Durchblick habe, das kann blind machen. Und dann ist man eben nicht offen für Gottes liebevolles und heilendes Handeln. Dann ist man getrennt von ihm. Und genau das ist es, was Jesus Sünde nennt.
Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.
Mein Fazit: Hüten wir uns vor Hochmut und religiöser Rechthaberei. Seien wir offen für Gottes heilendes Wort und Handeln. Und lassen wir uns gebrauchen, beides in unsere Zeit hinein zu tragen. Und das alles im Namen dessen, der uns die Augen öffnen will, damit wir Gottes Herrlichkeit in dieser Zeit und Welt entdecken. Aber auch die, die dringend jemanden brauchen, der liebevoll und behutsam Augen öffnen kann, damit das Wesentliche ans Licht kommt.
Amen
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Erstellt am: 23.09.2013 14:01 Uhr