Von Pfarrer Helmut Müller
Hinführung zu Markus 8, 22-26
Der Text für die heutige Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis steht
im Markusevangelium. Wir hören aus dem 8. Kapitel die Verse 22-26.
Es ist die Erzählung von der Heilung eines Blinden.
22 Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden
und baten ihn, dass er ihn anrühre.
23 Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das
Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn:
Siehst du etwas?
24 Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sehe ich Bäume
umhergehen.
25 Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich
und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
26 Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf.
Herr dein Wort in meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Amen
Liebe Gemeinde,
Blindenheilungsgeschichten sind in der Bibel häufig Erkenntnisgeschichten.
Erkennen hat mit der rechten Wahrnehmung zu tun. In der heutigen Heilungsgeschichte geht es um das Erkennen von Jesus und seiner Botschaft. Dies wird aus dem Zusammenhang deutlich, in dem die Erzählung steht.
Voraus geht die Feststellung, dass Jesus von den damals Frommen, den
Pharisäern, nicht verstanden wird. Auch von den Jüngern, die ihn doch eigentlich kennen müssten, sagt Jesus, dass ihr Herz verhärtet ist, dass sie Augen haben und doch nicht sehen.
All dies weist darauf hin, dass es in der Erzählung weniger um die körperliche
Heilung geht, sondern um das Erkennen der Wahrheit, die mit Jesus in die Welt
gekommen ist.
Die Erzählung beginnt mit einer genauen Lokalisierung. Und sie (gemeint ist Jesus
und seine Jünger) kamen nach Betsaida. Betsaida ist ein Dorf und liegt nordöstlich am See Genezaret. In diesem Dorf lebte ein Blinder. Es waren wohl Mitbewohner, die den Blinden zu Jesus brachten mit der Bitte, Jesus möge ihn berühren. Offenbar ging Jesus der Ruf voraus, dass Menschen durch Berührung mit ihm geheilt werden. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Ohne ein einziges Wort zu sagen, erfüllt Jesu die Bitte. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus aus dem Dorf.
Nicht im Dorf, sondern weg vom Getriebe des Alltags findet der Blinde
Heilung. Zum Gesundwerden gehört Ruhe. Auch wir brauchen immer wieder solche Zeiten des Herausgelöstseins vom Getriebe des Alltags, um zu uns selbst zu finden.
Dazu möchte uns der Sonntag – gerade auch der Gottesdienst – verhelfen, dass wir frei werden vom Verstricktsein in äußere Dinge, um die Menschen und Welt mit neuen Augen wahrzunehmen. Auch der Urlaub kann uns helfen, über unser gewordenes Leben nachzudenken, gegebenenfalls festgefahrene Gleise zu korrigieren und uns dem Leben in neuer Weise zu öffnen. Wo wir vom Getriebe des Alltags vom Vielerlei besetzt sind, da kann schwerlich Neues in uns eindringen.
Jesu führte den Blinden hinaus aus dem Dorf – weg vom Getriebe des Alltags – weg von Menschen und Dingen. Im Vergleich mit anderen Heilungsgeschichten fällt auf, dass Jesus in der heutigen Erzählung, zwei Therapiegänge braucht, um die Heilung zu vollziehen.
Die erste Therapiephase erfolgt ähnlich wie in anderen vergleichbaren Heilungen mit Speichel und Berührung. In der Antike schrieb man dem Speichel Heilkraft zu, was für uns heute schwer nachvollziehbar ist. Anders dagegen denken wir von Berührungen, die therapeutisch sein können. Beides begegnet uns im heutigen Text. Jesus tat Speichel auf seine Augen und legte die Hände auf ihn. Und nun folgt ein kurzer Dialog, der auf eine erweiterte Sichtweise, auf ein Sehen mit dem Herzen, abzielt. Und Jesu fragte ihn: Siehst du etwas?
Die Frage zielt auf eine tiefere Wahrnehmung.
Unsere übliche Wahrnehmung von uns selbst und der Welt ist begrenzt und fragmentarisch.
Dies wird aus der Antwort des noch nicht Geheilten klar:
Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
Menschen wie Bäume sehen – dies ist unsere normale Sichtweise, die sich am außen orientiert
und die Paulus im 13. Korintherbrief so beschrieben hat: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort.
Das hier angesprochene begrenzte Erkennen begleitet uns wohl lebenslang. Wir kommen nicht sehend auf die Welt, sondern wir müssen uns immer wieder neu die Augen von Jesus reinigen lassen, um in tieferer Weise sehen. In unserer heutigen Erzählung kommt dies in der stufenweisen Heilung zum Ausdruck, indem Jesus erneut die Hände auf die Augen des inwendig noch nicht Geheilten legt. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, so dass er alles genau sehen konnte.
Mit diesem Geheilten sind auch wir heute eingeladen, uns von Jesus und seiner Botschaft berühren und uns eine erweiterte Sichtweise schenken zu lassen.
Im Ausgerichtetsein auf ihn, im Hören auf seine Botschaft, kommt es zu einem neuen Sehen und Erkennen von uns selbst, von unseren Mitmenschen, von der Welt. Wo wir uns von Jesus berühren lassen und seinen Worten vertrauen, da lernen wir uns selbst und die Welt mit dem Herzen zu sehen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – hat Excupery im „Kleinen Prinzen“ geschrieben.
Dieses neue tiefere Sehen und Wahrnehmen ist das eigentliche Wunder, auf die die heutige Heilungsgeschichte abzielt! Wie sich dieses neue Sehen im Leben zeigt, will ich an Beispielen aus der Bergpredigt veranschaulichen. In der Bergpredigt werden wir beispielsweise gebeten, unser Augenmerk zunächst auf uns selbst zu richten, bevor wir andere Menschen verurteilen und ausgrenzen. Mit dem Wort vom Balken und dem Splitter hat Jesus diese Bitte auf den Punkt gebracht. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem eigenen Auge? ( Mt. 7,3)
Das neue tiefere Sehen, das uns geschenkt wird, wenn wir uns von den Worten Jesu berühren lassen, ist ein Sehen mit dem Herzen – ein Sehen in Liebe. Ja, es ist Liebe, die unser Leben heilt und die uns mit Gott verbindet. Wo wir Gott vertrauen, der uns mit seiner Nähe umgibt, da machen wir die Erfahrung, dass sein Licht uns begleitet und Kraft gibt – auch im größten Dunkel. Davon ist im eingangs gehörten Wochenspruch die Rede, wo uns zugesagt wird:
Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. (Jesaja 42,3) Das Bild vom am Boden liegenden Schilfrohr, das vom Sturm geknickt wurde, und das Bild vom glimmenden Docht, der durch einen leichten Windstoß zu erlöschen droht, sind sprechende Bilder und lassen sich leicht auf unsere innere Verfassung übertragen.
Es gibt Zeiten, wo wir aufgrund von Widerfahrnissen angeschlagen am Boden liegen und kein Licht mehr sehen. Eine Patientin hat mir einmal geantwortet, als ich sie nach ihrem Befinden fragte: „Ich fühle mich wie eine langsam verlöschende Kerze“. Wie tröstlich ist da – in solchen Situationen – die Zusage des Wochenspruchs, dass Gott uns nicht am Boden liegen lasst und uns nicht der Dunkelheit ausliefert.
Das ist die neue Wahrnehmung, die uns die Widerfahrnisse und Ereignisse in einem neuen
Licht sehen lässt. Wir erkennen dann, dass ein Leben ohne Liebe sinnlos ist. Wer sich auf diese Weise berühren lässt, der kann dann sein früheres Leben nicht in gleicher fortführen und im Getriebe des Alltags aufgehen. In der heutigen Erzählung ist dies angesprochen mit der Weisung Jesu an den Geheilten, nicht in das Dorf hineinzugehen, sondern heim zu gehen. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf! Gotteserfahrungen, die uns zu einer neuen Sichtweise verhelfen, werden uns nicht im Getriebe der Welt zuteil. Sie werden uns geschenkt, wo wir zur Ruhe kommen und uns von den vielen Dingen freimachen, die täglich auf uns einstürmen. Gott selbst schenke uns in Jesus Christus solche Zeiten der Ruhe und Besinnung, die uns zu einer neuen, vertieften Sichtweise des Lebens verhelfen.
Amen
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Erstellt am: 18.08.2013 20:13 Uhr