Lesung: Apg 6, 8-10; 7, 54-60 / Evangelium: Mt 10, 17-22
Schwestern und Brüder!
Ich nehme mal an, es würde Sie jetzt alle doch ziemlich irritieren, wenn ich diese wunderschöne Weihnachtskugel, die ich da in meiner Hand habe, fallen ließe. Stimmt‘s? Die Einen würden sagen: Jetzt macht der eine solch schöne Kugel einfach kaputt. Und andere würden vielleicht denken: So was tut man doch nicht in der Kirche. Einfach Scherben machen, die dann hier rumliegen. Das stört doch die ganze wunderschöne Stimmung. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich werde diese Kugel weder absichtlich auf den Boden werfen, noch werde ich sie unvorsichtig fallen lassen.
Und trotzdem müssen wir uns heute stören lassen. Denn mitten in unserer Weihnachtsidylle feiern wir das Märtyrerfest des heiligen Stephanus. Auch hier könnte ich mir denken, dass die ein oder der andere sagt: Muss das denn unbedingt heute sein, wo wir doch noch an Weihnachten denken und weihnachtliche Lieder singen? Kann man mit diesem Heiligenfest nicht noch ein oder zwei Wochen warten – das tut’s doch auch noch im neuen Jahr? Ja, wir tun uns schwer, dass da unmittelbar auf das Weihnachtsfest folgend, eines Menschen gedacht wird, der um seines Glaubens willen gesteinigt wurde.
Genauso irritiert uns wohl auch das Evangelium, das wir gerade gehört haben. Von wegen weihnachtlich kuschelig oder gar freundlich-harmlos. Da ist vielmehr die Rede von Verfolgung und Familienstreitigkeiten. Das passt doch gar nicht zu „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“. Wirklich nicht? Dann dürften wir aber wirklich nicht viel mehr als diese beiden ersten Zeilen singen. Denn weiter heißt es doch auch in diesem Weihnachtslied: „Welt ging verloren, Christ ist geboren.“ Also von wegen viel Gesang mit heiler Welt.
Welt ging verloren, das klingt doch nach einer zerbrechlichen Welt – oder besser gesagt: nicht nur nach einer zerbrechlichen, sondern nach einer Welt, die an vielen Stellen schon gesprungen, gerissen und zerbrochen ist. Wenn wir singen „Welt ging verloren“, dann liegt da doch das Bild von den Scherben gar nicht so weit weg. Und wenn wir ehrlich sind, dann trifft das doch nicht nur auf die große Welt, sondern auch auf die unsere, auf unser Leben, unseren Alltag zu. Dass dieses Leben zerbrechlich ist, dass es da viele Risse und Bruchstellen gibt, davon könnte wahrscheinlich jede und jeder von uns berichten. Wir könnten erzählen von Beziehungen, die rissig geworden sind, und von Bruchstellen, die uns schmerzen, weil wir enttäuscht wurden. „Welt ging verloren, Christ ist geboren.“
Genau in diese Welt hinein aber lässt Gott seinen Sohn Mensch werden. Eben nicht in eine heile, in eine dekorative oder stimmungsvolle Weihnachtswelt hinein, sondern in die zerbrechliche Welt unserer Sehnsüchte, unserer Schuld, unserer Hoffnungen. Genau in diese Welt stellt Gott die Krippe für seinen Sohn, damit wir – wie ich es gestern versucht habe zu formulieren – uns von dem „krippalen Virus“ anstecken lassen bzw. das Kind in der Krippe und der erwachsene Jesus uns seine heilenden Hände auf die Bruchstellen unseres Lebens legen kann.
Aus dieser Sichtweise heraus ist es vielleicht für uns jetzt auch leichter verständlich, dass es eine mehr als gute Idee ist, an Weihnachten unsere Christbäume mit Kugeln zu schmücken. Diese Kugeln sollen nämlich nichts anderes anzeigen, als die Tatsache, wie zerbrechlich unsere Welt und unser Leben ist. Ich denke dabei an Menschen, denen ich dieses Jahr kein „frohes Fest“ wünschen konnte, weil es mir – angesichts dessen, was sie erleben mussten – einfach nicht über die Lippen kam. Da ist die junge Frau und Mutter, die um ihren nur 42 Jahre alt gewordenen Mann trauert; der alte Herr, der im Krankenhaus liegt, und von niemandem mehr besucht wird, außer vom spanischen Pfarrer, den er nicht versteht; da ist die alleinerziehende Mutter, die an Brustkrebs erkrankt ist, und mir geschrieben hat, dass sie in ihrem Leben „alles, aber auch gar alles falsch gemacht“ habe; da ist die junge Frau, die völlig verzweifelt das Gespräch mit mir gesucht hat und ihren Vater nur noch hassen kann, nachdem was er ihr angetan hat und da sind die Großeltern, die sich so auf die Geburt eines Enkelkindes kurz vor Weihnachten gefreut hatten und nun mit den Eltern an der Todgeburt dieses Kindes zu verzweifeln drohen.
Spüren wir angesichts dieser Schicksale wie kostbar, wie wertvoll und wie zerbrechlich Leben sein kann? Zerbrechlich wie eine hauchdünne Glaskugel. Von daher stimmt der Liedvers: „Welt ging verloren, Christ ist geboren.“ Denn wenn Jesus geboren wurde, um unsere Welt tatsächlich zu retten, dann wird er vor all diesen Scherben nicht zurückschrecken. Im Stall von Bethlehem ist Platz für all die Risse, die uns das Leben gerade schwer machen; für all die Scherben, die wir mit uns herumtragen. In und durch die Krippe wird für uns und all die genannten Menschen mit ihren Schicksalen deutlich: Wir sind nicht uns selbst überlassen. Gott ist immer da, wo Menschen leiden, wo sie trauern und wo sie einen Sinn suchen für ihr unsinniges Schicksal. Das Kind in der Krippe sagt uns: Hier ist unser Gott als wahrer Mensch zu uns gekommen. Und wir können nur wahre Menschen werden und bleiben, wenn Gott in uns ist und wir ihm und seiner Botschaft trauen und vertrauen – auch und gerade dann, wenn es nicht besonders weihnachtlich-stimmungsvoll in uns aussieht.
Ein Märtyrer an Weihnachten? Scherben an der Krippe? Ich für meinen Teil will behaupten, beides gehört genau dahin. Denn erst so wird Weihnachten Wirklichkeit, wenn wir Gott in unser ganzes Leben hineinlassen und nicht nur in unsere ordentlich aufgeräumten und schön dekorierten Weihnachtsstuben. Dann wird Weihnachten Wirklichkeit, wenn wir Gott auch all die Stellen unseres Lebens zeigen, die vom Staub und vom Dreck gezeichnet sind, in denen Gerümpel und Scherben liegen, wo Fragen sich in Briefen übereinander türmen und ohne Antwort bleiben. Gott können wir damit nicht erschrecken. Im Gegenteil: Gerade wenn wir ihm die Dunkelkammern unseres Herzens zeigen, wird er sich als der Gott-für-uns und der Gott-mit-uns erweisen. Und dann können wir wirklich getrost singen: „“Welt ging verloren“ – weil es auch immer wieder meine Welt ist, die verloren geht. Aber ich habe die Zusage: „Christ ist geboren“ – heute und auch für mich. „Freue dich, du Bertram Bolz, freue dich, o Christenheit.“ Amen.
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Erstellt am: 25.12.2011 09:03 Uhr