L II: 1 Joh 3,1f, 21-24 / Ev.: Lk 2, 41-52
Schwestern und Brüder!
„Spielen wir Maria, Josef und das Jesuskind?“, so sagen die Kinder und gehen der Heiligen Familie auf die Spur nach ihrer eigenen Erfahrung, ihrem eigenen Geschmack und Kenntnisstand. So zumindest erzählt es Marianne Sedivy in ihrem Buch mit dem Titel „Über Gott und Gummibärchen“. Humorvoll und hintergründig lässt sie ihre Leserschaft am erfrischend unkomplizierten Umgang ihrer drei Kinder mit religiösen Fragen teilhaben. Leider habe ich bislang nur einen kleinen Auszug daraus in einer Zeitschrift gelesen, aber bereits der hat es in meinen Augen ganz gewaltig in sich. Das spontan vereinbarte „Heilige-Familie-Spiel“ stellt nämlich die drei Knirpse bereits nach kurzer Zeit vor riesige Probleme: Sie streiten sich über die Rollen und weisen einander wütend zurecht. „Josef“ hat zum Durchsetzen seiner Meinung gegenüber dem kleineren Bruder ein ganz schlaues Argument: „Wenn du der Jesus sein willst, dann musst du immer brav sein, weil der Sohn Gottes ja gar nicht schlimm sein kann.“ Aber der „Jesus“ in dieser Familie ist genauso wenig auf den Mund gefallen, wie der reale Zwölfjährige im Tempel. „Das ist gar nicht wahr“, mault er drauf los. „Gott muss überhaupt niemandem gehorchen. Alle müssen tun, was er will. Also musst du mir folgen. Hast du das verstanden?“
Man spürt schon nach diesen wenigen Zeilen, dass das „Heilige-Familie-Sein“ ein schwieriges Unterfangen ist. Im unverkrampften Spiel der Kinder zerbricht das trügerische Ideal bald an der nüchternen Wirklichkeit. Im kirchlichen Bereich aber, da kann dieses Ideal sehr langlebig, um nicht sogar zu sagen: zählebig sein. Die Heilige Familie als das Idealbild einer Familie, vereint in einer – auch auf Bildern – idyllisch gemalten Häuslichkeit. Nur so ist auch zu erklären, weshalb der Maler Max Ernst 1926 die größten Probleme mit der Kirche bekam, als er sein Bild: „Die Jungfrau züchtigt den Menschensohn“ erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zeigte. Auf diesem Bild versohlt Maria dem kleinen Jesus ganz gewaltig das nackte Hinterteil. Aber es stimmt schon: Bis heute hält sich ein moralisch belehrender Unterton rund um das 1920 gesamtkirchlich eingeführte Fest der Heiligen Familie am Sonntag nach Weihnachten. Deshalb sind auch manche Seelsorgerinnen und Seelsorger mehr als froh, wenn durch bestimmte Kalenderkonstellationen dieses Fest nicht jedes Jahr automatisch gefeiert wird.
Wieso und warum sich eine solch fromme Wunschvorstellung in der Kirche durchgesetzt und in ihr auch gehalten hat, wie wir sie auf Schlafzimmerbildern aus Großmutters Zeiten sehen oder auch auf Andachts- und Fleißbildchen, die an folgsame Kinder in der Schule ausgegeben wurden: ich kann es Ihnen nicht 100%tig sagen. Am Evangelisten Lukas kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Denn der zerstört eine solche fromme Wunschvorstellung ganz massiv. Theologisch gesprochen geht es ihm um das Erwachen des Messias-Bewusstseins in dem heranwachsenden Jesus, dem bereits mit zwölf Jahren zu dämmern beginnt, wer er in Wahrheit ist und woher er eigentlich kommt. Entwicklungspsychologisch betrachtet, handelt es sich ja hier um einen jungen Mann in der Vorpubertät, der – wie alle Kinder und Jugendlichen in dieser Situation – seinen Eltern Rätsel aufgibt und sie oft genug ratlos macht. Wenn wir an den erwachsenen Jesus denken, der seinen Jüngerinnen und Jüngern rät, ganz auf Ehe und Familie zu verzichten, dann können wir sagen: Bereits hier beginnt sich eine Infragestellung der Familie abzuzeichnen, die ihn später ausrufen lässt: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder. Und er streckte die Hand über alle aus, die ihm gefolgt waren und sprach: Das hier sind meine Mutter und Brüder. Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder, Schwester und Mutter.“
Ich finde es nicht nur gut, sondern vor allem tröstlich, dass uns das Fest der
Heiligen Familie – so gesehen – gar keine heile Welt vor Augen stellt, sondern uns ganz klar erkennen lässt, dass sich all die Familienkonflikte, die auch uns nicht fremd sind, bereits in der Familie von Nazareth angedeutet finden. Warum sollte Jesus auch in einer Idealfamilie aufgewachsen sein, wo doch sein ganzes Leben alles andere als ideal und harmonisch verlaufen ist? Kann denn eine Familie nur dann „heilig“ sein, wenn alles in ihr glatt geht, wenn in ihr ständig gebetet und der Alltag permanent religiös überhöht wird? So jedenfalls stellte man sich die Heilige Familie über einen langen Zeitraum vor und idealisierte damit natürlich ausgerechnet jenen konfliktreichen Lebensraum, der für die Menschwerdung und Entwicklung eines Kindes so lebenswichtig und lebensnotwendig ist.
Halten wir also fest: Der Sohn Gottes wurde wirklich Mensch und ist deshalb auch in einer ganz normalen Familie aufgewachsen. Wenn wir nun diese Familie dennoch „heilig“ nennen, dann doch nur deshalb, weil Gott in ihr anwesend war wie wohl in keiner anderen Familie. Gerade das aber bedeutet doch keinesfalls, dass dieser Familie irgendetwas erspart geblieben wäre, womit andere Familien bis auf den heutigen Tag fertig werden müssen: All die Belastungen und Probleme, all die Spannungen und Konflikte, die sich eben jeglicher Idealisierung widersetzen. Beides gehört zum wahren Menschsein Jesu dazu: Dass seine Familie sicher eine sehr gottesfürchtige jüdische Familie war – ganz ohne Zweifel -, und dass ihm diese Familie eine Zeit lang Heimat und Geborgenheit schenkte. Aber andererseits stimmt eben auch, dass Jesus seine Familie eines Tages hinter sich gelassen hat, und sich genau dieser schmerzliche Ablösungsprozess bereits damals abzeichnete, als er sich – zwölfjährig – so aufmüpfig gegenüber seinen Eltern verhielt: „Wisst ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“
Kurzum: Das Heilige an der Familie von Nazareth war vor allem diese Bereitschaft, Jesus seinen eigenen, seinen göttlichen Weg gehen zu lassen. Und da meine ich, können auch wir als Eltern davon lernen. Auch für unsere Kinder beginnt der Loslösungsprozess bereits mit dem Durchtrennen der Nabelschnur. Natürlich brauchen die Kinder unsere Fürsorge; aber sie brauchen auch dieses Loslassen und dieses sich „eigene Entscheiden“. Wie heißt es im Evangelium über Maria: „Seine Mutter aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.“ – und ich möchte gerne hinzufügen: Und erinnerte sich daran, als die Zeit kam, in der ihr Sohn seine eigenen Wege ging und in der Erfüllung seiner Sendung Nazareth und seine Familie für immer verließ. Das Neue, das andere, das, was wir die Gottheit Jesu nennen, das scheint mir gerade an dieser Nachtstelle aufzubrechen, wo Jesus sich von seiner Herkunft löst und die neue Familie der Frauen und Männer begründet, die ihm folgen. Zu dieser gehört dann irgendwann auch wieder seine Mutter – von Josef wird uns das nicht berichtet. Konnte er den Weg nicht gutheißen? Hat er eventuell sogar mit dem Sohn gebrochen, weil er die Familie verlassen hat? Das zu berichten, wäre sicherlich genauso erwähnenswert wie die Tatsache, dass er vielleicht zu diesem Zeitpunkt schon nichtmehr gelebt hat. Aber lassen wir die Spekulationen. Wir wissen es nicht, es wird nichts erzählt, wieso und wieso auch immer. Maria aber gehört irgendwann zu dieser neuen Familie Jesu hinzu – nicht weil sie ihn geboren und aufgezogen hat, sondern weil sie mit zu den ersten gehörte, die an ihn geglaubt haben.
Kehren wir aber zurück an den Anfang dieser Gedanken und zu dem köstlichen „Heilige-Familie-Spiel“ der Kinder: Was würden sie wohl spielen, wenn sie nicht nur nichts von solchen biblischen Szenen und Geschichten wüssten, sondern wenn das Wort Familie für sie längst zum Fremdwort geworden wäre? Was ist denn mit all den Alleinerziehenden und unvollständigen oder gar zerbrochenen Familien? Was fängt er denn an, der „Single im großen Weihnachtsgetingel“? So wie Kirche häufig genug Familie sieht und propagiert, schreckt es viele von ihnen ab, mit der Kirche an Weihnachten „einen auf Familie“ zu machen. Wie schrieb der katholische Religionssoziologe Michael Ebertz schon vor Jahren in einem Beitrag: „An Weihnachten werden die nicht zölibatären Singles wieder erleben müssen, wie in der Gottesdienstgemeinde die Familien gefeiert werden…und viele von ihnen werden sich, wenn nicht abgewertet und ausgegrenzt, so doch zumindest fremd fühlen. Viele von ihnen lassen sich erst gar nicht blicken, ergreifen die Flucht in den Urlaub oder versammeln sich dort, wo sie sich nicht als Minderheit erleben müssen.“ Wenn dem aber so ist, dann ist es in meinen Augen doppelt wichtig, die Familie nicht zu hoch zu stilisieren, sondern einzuordnen in den großen Zusammenhang des Reiches Gottes, dem man ganz verschieden dienen kann. Jesus selbst blieb bekanntlich ehelos und hatte – wie wir bereits sahen – eine eigentümliche Reserviertheit gegen seine eigene Sippe, ja gegen die Familie als solches. Vielmehr ruft er uns alle in die neue Familie seiner Jüngerschaft – ob wir nun in einer Familie oder aber – gewollt oder ungewollt – ohne eine solche leben. Amen.
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Erstellt am: 02.01.2013 08:52 Uhr