L I: Jer 31, 7-9 / Ev: Mk 10, 46–52
Schwestern und Brüder!
Da sitzt er also am Straßenrand, eingehüllt und zusammengekauert in eine dunkle Decke, die Beine angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt – Bartimäus. Ob dieses, sein Leben, immer so war, wissen wir nicht. Wohl eher nicht, denn sonst hätte es der Evangelist sicher erwähnt. So also können wir davon ausgehen, dass Bartimäus früher einmal sehen und durchaus einem Beruf nachgehen konnte. Dann allerdings kam der Moment oder die Krankheit, die ihm das Sehvermögen nahm. Er wurde blind, arbeitslos, ohne jegliche Perspektive. Als Bettler am Straßenrand zu sitzen, das ist alles, was ihm geblieben ist. Wertlos, menschlich würdelos und sich anderen gegenüber lästig und belästigend fühlend bis an sein Lebensende. Die dunkle Decke zieht er als Schutz gegen die mitmenschliche Kälte und Verachtung um sich; dunkel, auch ein Zeichen der Trauer über all das, was er verloren hat – Augenlicht und Lebensfreude.
Bartimäus damals – vor 2000 Jahren. Machen wir einen Szenenwechsel: In eine dunkle Decke von Schwermut gehüllt, eine Flasche Bier vor sich, so sitzt der alleinstehende Mann in seiner kleinen Einraumwohnung. In der Küche türmen sich Berge von dreckigem Geschirr, der Mülleimer gehört geleert, auf dem Esstisch stapeln sich Zeitungen mit aufgeschlagenen Stellenanzeigen und Mahnbriefen, alles längst Altpapier. Der Mann sitzt zusammengesackt auf dem Küchenstuhl, sein Blick geht ins Leere, die Gedanken bilden wirre Ketten. Wo ist die Kraft, mit der er so vieles in seinem Leben schon geschafft hat? Depressive Verstimmung, sagt der Arzt; eine tiefe Traurigkeit seit dem überraschenden Tod der Frau; beruflicher Absturz, Hausverkauf, Einsamkeit. Er ist weit entfernt von dem, wie er sich früher kannte. Ein dunkler Schatten hat sich auf seine Seele gelegt und verfinstert seinen Blick. Der ganz normale Alltag ist für ihn zu einer immensen Last geworden. Bartimäus – heute. Ein Leben auf der Schattenseite, in Dunkelheit, ohne jegliche Perspektive.
Bartimäus – es gab ihn damals und es gibt ihn heute – sowohl als Mann wie auch als Frau. Solange die Menschen schweigen, ist für den Rest der Welt dabei alles in Ordnung. Solange die Betroffenen sich klein machen und nicht weiter auffallen, sind sie geduldet. Oder anders gesagt: Wer in der ihm zugewiesenen Rolle funktioniert, bekommt sogar ab und an ein Almosen. Nur – der biblische Bartimäus hält sich nicht an seine Rolle. Lang genug hat er am Straßenrand gesessen. Er ist zwar blind, aber er ist nicht taub. So hat er von diesem Jesus aus Nazareth gehört, dem man nachsagt, dass durch seine Kraft Lahme wieder gehen und Blinde wieder sehen können; ganz so, wie es die Propheten schon vor langer Zeit angekündigt haben. Und da spürt Bartimäus auf einmal wieder so etwas wie Leben in sich. Er erinnert sich an die Verheißungen, die auch wir heute in der Lesung gehört haben: Die Trauernden will Gott an wasserführende Bäche geleiten und ihre Wege ebnen. Jubeln sollen sie im Neuland. Bei diesen Gedanken wächst in Bartimäus der Glaube, dass auch bei ihm Veränderung und Heilung möglich ist. Genau diese Hoffnung auf Veränderung aber ist der erste Schritt, mit der die Heilung des Bartimäus beginnt.
Der nächste Schritt ist nicht weniger wichtig: Er schreit, und zwar so, dass es alle hören. Laut werden, schreien, sich Gehör verschaffen, das haben wir nicht so gerne, denn das stört die Ruhe und Ordnung und passt nicht ins heile Bild, das wir oft von unserem Leben und unserer Umwelt haben. Aber ohne dieses Schreien wäre die Heilung des Bartimäus wohl nicht geschehen. Denn damit versteckt er sich nicht mehr in seiner erbärmlichen Lebenssituation. „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Indem der Blinde dies aus sich herausschreit, verändert sich bereits etwas. Denn um so schreien zu können, muss er seinen Kopf heben, muss er seinen gebeugten Rücken aufrichten. All jene, denen es besser geht, mögen ein solches Verhalten überhaupt nicht und deshalb befehlen sie ihm auch ganz ärgerlich, dass er doch einfach schweigen solle. Aber Bartimäus denkt gar nicht daran, sich weiterhin mundtot machen zu lassen. Im Gegenteil – er schreit noch viel lauter und genau dieses gellende Geschrei nimmt Jesus selbst in der großen Menschenmenge war und lässt ihn zu sich rufen.
Die Hartnäckigkeit hat sich also gelohnt. Und dieselben Leute, die Bartimäus eben noch angefahren haben, er solle doch endlich seine Klappe halten, genau die sind es jetzt die auf einmal zu ihm sagen: „Hab Mut! Steh auf! Er ruft dich!“ Wenn ich mir diese Bibelstelle so anschaue, dann können diese Menschen vielleicht aber auch für die widerstreitenden inneren Stimmen des Bartimäus selbst stehen. Was ich damit meine? Nun, die eine Stimme sagt ihm: „Ach, für dich verändert sich doch sowieso nichts. Du bist nichts wert, bist für andere nur eine Last, ein hoffnungsloser Fall. Dieser Jesus hat Wichtigeres zu tun, als sich um einen solchen Versager wie dich zu kümmern.“ Und die andere Stimme sagt: „So kann es nicht weitergehen. Ich halte das nicht mehr aus. Es ist mir jetzt egal, was die anderen denken. Ich versteck‘ mich nicht mehr länger, sondern schreie zu Gott, weil ich endlich anders leben möchte – endlich wieder!“
Kommt uns so etwas, was Bartimäus da erlebt, nicht auch bekannt vor? Wenn ich Veränderungen möchte, werde ich in mir selbst und bei anderen immer auch auf Widerstand stoßen. Den meisten Menschen ist das Alte, Vertraute und sei es noch so unerträglich, oft viel lieber als das Neue und Veränderte. Und warum? Weil Neues oft Angst macht; dabei ermöglichen Veränderungen ja oftmals erst wirkliches Leben. Nehmen wir nur mal die Natur. Die Blätter fallen von den Bäumen, weil sich längst neue Knospen gebildet haben, die den Frühling in sich tragen und die sich, wenn die Zeit dafür reif ist, entfalten möchten. Bei Bartimäus ist die Sehnsucht nach Leben stärker als alle Ängste und Selbstzweifel. Und deshalb wird von ihm dann auch erzählt: „Er warf seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.“ Der Glaube, dass die Nähe zu diesem Jesus ihn heilen kann, macht ihn auf einmal handlungsfähig. Er wirft den Mantel, das, womit er sich versteckt hat, was ihn wie ein dunkles Tuch der Hoffnungslosigkeit gefesselt hat weg, weil es jetzt nur noch ein Hindernis wäre. Jetzt ist aufrichten und aufstehen angesagt. Er wartet nicht darauf, dass ihm irgendetwas in den Schoß fällt, sondern bewegt sich selbst, wird aktiv und geht auf Jesus zu – allein.
Der Bartimäus in seiner eingangs erwähnten Einraumwohnung hat es da schwerer. Der dunkle Schleier über seiner Seele lässt sich nicht so einfach abwerfen wie ein Umhang, sondern die Fäden der Fesseln müssen langsam aufgetrennt werden. Dazu braucht er Hilfe von Menschen, die wissen, wie sein Seelenkleid gewebt ist, und er braucht die Hilfe Gottes, die den Keim der Hoffnung in ihm – allen Selbstzweifeln zum Trotz – wachsen lässt. Aber auch er muss den ersten wichtigen Schritt allein gehen; nämlich den, auf andere zuzugehen, sich einzugestehen: ich brauche Hilfe. Das gilt für depressive Verstimmungen genauso wie für organische Beschwerden und für Suchterkrankungen gilt das erst recht. Den ersten Schritt in Richtung Heilung muss jede und jeder selbst tun.
Bartimäus hat diese Richtung eingeschlagen und deshalb konfrontiert ihn Jesus mit der existentiellen Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Was willst du? Wozu hast du dich entschlossen und wozu bist du bereit? Wenn Jesus uns das jetzt fragen würde, wüssten wir – Sie und ich – eine Antwort? Könnten wir benennen, was für uns lebenswichtig ist? Spüren wir, woran unser Leben krankt, auch wenn es für andere nicht unbedingt sichtbar ist? Sind wir bereit für das, was unsere Not wenden könnte? Bartimäus je-
denfalls sagt ohne zu zögern: „Ich möchte wieder sehen können.“
Die Heilung des Bartimäus, eine wundervolle Geschichte. Aber sie bleibt eben nur eine Geschichte, wenn sie Sie und mich nicht in unserem Innersten berührt. Und zwar dergestalt berührt, dass wir darauf vertrauen, dass Gott uns durch Menschen genauso dabei hilft, schwierige Lebenssituationen zu verändern, wie damals Bartimäus. Vertrauen wir ihm unsere Bedürftigkeit und unsere persönliche Notlage an, im Gespräch, im Gebet, im Schreien und Brüllen der Klage oder auch den Tränen der Trauer und der Erschöpfung und vertrauen wird darauf, dass er uns in helfenden Menschen begegnet. Vielleicht gehen uns dabei die Augen nicht immer so schnell auf wie Bartimäus aus dem Markus-Evangelium. Denn Heilung braucht Zeit und sie ist oftmals ein langer Weg. Doch wir wissen: Gott ist mit uns – mit Ihnen und mit mir.
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Erstellt am: 29.10.2012 12:54 Uhr
