Lesung: Mal 1, 14b-2,2b.8-10 / Evangelium: Mt 23, 1-12
Schwestern und Brüder!
Sind Sie beim Metzger oder im Feinkostladen schon mal gefragt worden: „Darf‘s auch ein bisserl weniger sein?“ Sehen Sie, ich auch noch nicht. Und doch muss ich sagen, ist mir genau dieser Spruch eingefallen, als ich das heutige Evangelium für mich durchdacht habe. Da ist man doch geneigt, in Anlehnung an die Kritik Jesu an den Pharisäern, die Geistlichen von heute genau in denselben Topf zu werfen. Wie viele Christen erwarten denn von diesen, dass sie die kirchliche Lehre, vor allem die moralischen Standards, unverfälscht und 150%ig vorleben, während viele Getaufte für sich selbst beanspruchen: „Darf’s a bisserl weniger sein?“ Nicht dass wir uns falsch verstehen. Wenn es um die Fälle sexuellen Missbrauchs geht, dann – so denke ich – wird dies von uns allen aufs Schärfste verurteilt. Aber wenn der ein oder andere Kleriker im Alltag so lebt, wie es die Mehrheit der Bevölkerung tut, also wenn er sich mal nicht an den Zölibat hält, dann wird er sofort der Doppelmoral bezichtigt.
Aber wie viele Getaufte nehmen gerade in diesem Bereich für sich in Anspruch: „Darf’s a bisserl weniger sein?“ Auch eine Form von Doppelmoral – oder nicht? Und sie wird uns noch ein wenig in Bezug auf dieses Evangelium beschäftigen.
Allerdings hat mich auch noch eine andere Aussage in Bezug auf dieses Evangelium stutzig gemacht, welche von Wissenschaftlern anhand einer Befragung von Gottesdienstteilnehmern publiziert wurde. Die kamen nämlich zu dem mehr als ernüchternden Ergebnis: „In der Regel nimmt der Kirchenbesucher aus einem Gottesdienst nur das mit, was er schon vorher gewusst hat!“ Also könnte ich mir durchaus jetzt weitere Überlegungen sparen, weil ja anscheinend nichts Neues für Sie dabei herauskommt. Oder wie muss ich das verstehen?
Die Wissenschaftler können aus den Aussagen der Befragten den Rückschluss ziehen: Wenn Gottesdienstbesucher einen Bibeltext hören, dann möchten die meisten von ihnen darin nur ihre eigene Meinung bestätigt haben. Das heißt nichts anderes als: das, was in unser bisheriges Bild passt, das nehmen wir wahr, das können wir behalten, während alles andere ausgefiltert, überhört oder ganz schnell vergessen wird. Also indirekt doch auch ein: „Darf’s a bisserl weniger sein?“
Damit wir das jetzt aber wirklich überprüfen können, sollten wir uns vielleicht mal fragen, was uns denn – Ihnen und mir – von dieser scharfen Rede Jesu im Gedächtnis geblieben ist. Ich könnte mir vorstellen, dass da wohl jetzt ganz unterschiedliche Antworten und Aussagen zustande kämen: Wenn da zum Beispiel jemand wäre, der so seine Probleme mit der Kirche oder auch mit sogenannten „guten Christen“ gemacht hat, für den wären dann diese Worte Jesu wahrscheinlich ein gefundenes Fressen. Da würden wir dann vielleicht zu hören bekommen: „Typisch Kirche, typisch die Christen. Die Frömmsten sind doch oft die Hinterhältigsten. Da machen ein paar Privilegierte die Gesetze und der Rest muss schauen, wie er damit klarkommt. Das ganze fromme Schauspiel ist doch nur Fassade und vielfach für die meisten einfach Gewohnheit. Die kirchlichen Würdenträger fahren in dicken Fahrzeugen vor und bekommen bei Festen oder Empfängen die Ehrenplätze. Die, die auf Erden niemanden „Vater“ nennen sollen, reden wie selbstverständlich von Beichtvätern, von Patres, ja sogar vom „heiligen Vater.“
Eine andere könnte enttäuscht sagen: „Es ist schade, dass die Kirche heute oft so an Äußerlichkeiten hängen bleibt. Es ist doch traurig, dass es hier noch so viel Über- und Unterordnung gibt und nicht genügend Miteinander.“ Und ein Dritter würde vielleicht bemerken: „Hier hat’s Jesus aber den Pharisäern gegeben. War ja auch mal notwendig, die Heuchelei dieser aufgeblasenen Gesetzesfanatiker aufzudecken. Aber was hat das mit mir zu tun?“
Sicherlich sind darüber hinaus noch viele andere Reaktionen denkbar – etwa auch das unbestimmte Gefühl: Hier geht’s durchaus auch um mich, um die Kirche von heute – doch dann eben das ängstliche Zögern, diesem Gespür wirklich nachzugehen und über eigene Erfahrungen nachzudenken. Oder das Bedürfnis, die Kirche zu verteidigen, die Über- und Unterordnungen als unverzichtbar zu erklären, Fehlentwicklungen zu entschuldigen oder sie zumindest mit dem Mantel des Schweigens zuzudecken.
Wenn wir nun, wie die vorhin erwähnten Wissenschaftler mit ihrer These behaupten, alle unsere eigenen Vorstellungen in diesem Text wiederfinden, dann bekommt der eine seine Abneigung bestätigt, die andere hat neuen Stoff für ihre Enttäuschung und Resignation entdeckt, der Dritte wird weiterleben wie bisher, weil die harte Predigt Jesu ja nur den Pharisäern damals galt, und die anderen werden die Pharisäer auch weiterhin außerhalb der Kirche suchen. Und darüber, darüber Schwestern und Brüder, könnten wir dann alle selbst zu Pharisäern werden: Der eine, wenn er sich selbstherrlich über die „braven kirchentreuen Schäfchen“ stellt; die andere, wenn sie als unverstandene „Progressive“ die Schuld für den heutigen Zustand der Kirche allein den „Konservativen“ in die Schuhe schieben will und die Übrigen, weil sie den Text gar nicht erst an sich heranlassen und überzeugt sind, er gelte ja eh nur für die anderen. „Darf’s a bisserl weniger sein?“
Aber halt: Könnte nicht auch einmal etwas ganz anderes geschehen? Stellen Sie sich einmal vor, diese vielen Menschen mit ihren unterschiedlichen Ansichten und Standpunkten kämen miteinander ins Gespräch: Sie würden aufhören, einander Schuld zuzuweisen und nur den eigenen Standpunkt als das wahre Nonplusultra zu betrachten. Sie würden langsam lernen, das Anliegen des anderen herauszuhören, und würden plötzlich merken: Aus dieser Perspektive, unter diesen Vorzeichen habe ich die Kirche und mein Leben in dieser Kirche noch gar nicht betrachtet. Was würde passieren? Ich meine, die Menschen würden die Angst voreinander verlieren und es könnte eine Atmosphäre des Vertrauens entstehen. Jede und jeder könnte frank und frei zugeben, dass sie oder er im Glauben wirklich noch wachsen kann, dass die anderen ihn bereichern und dass er schlussendlich doch nur gemeinsam und zusammen mit ihnen Kirche sein kann.
Dann kann der eine vielleicht für sich selbst feststellen, dass er seine negativen Erfahrungen mit der Kirche wirklich sehr intensiv gepflegt und gehegt hat, weil diese für ihn Alibi dafür waren, keine neuen Erfahrungen mit der Kirche machen zu müssen. Die andere könnte vielleicht verstehen, dass Erneuerungen immer auch Verunsicherungen und Ängste auslösen und dass es deshalb darauf ankommt, diese Veränderungen so vorzubereiten und zu vermitteln, dass die Menschen sie annehmen und den Weg mitgehen können. Und die Ängstlichen würden spüren, dass Glaube immer was mit Leben, mit Bewegung und Entwicklung zu tun hat und dass sich deshalb auch die Kirche immer wieder verändern muss – getreu dem Motto des II. Vatikanischen Konzils: Ecclesia semper reformanda – die Kirche muss sich ständig erneuern oder wie der selige Johannes XXIII. den Wahlspruch über dieses Konzil legte: Aggiornamento – die Kirche muss im Heute, im Alltag der Menschen, wieder als Segen spürbar und erfahrbar werden. Auch die Aussage des seines Amtes enthobenen Bischof Gaillot macht genau dies deutlich: „Eine Kirche die nicht dient, dient zu nichts.“
Solche Gespräche, ein solcher Austausch wäre dann doch der Anfang einer Gemeinschaft, einer Gemeinde, einer Kirche, wie Jesus sie gewollt hat. Es wäre eine geschwisterliche Gemeinschaft, in der vor jeder Über- oder Unterordnung die grundlegende Gleichheit aller steht. Es wäre eine Gemeinde, in der nicht die Angst vor dem anderen, das charakteristische Merkmal ist, sondern die Freude an der Vielfalt. Und es wäre eine Kirche, die Kritik annehmen kann, weil sie sich selbst immer wieder von innen heraus erneuern will und die weitergibt, was ihr selbst geschenkt ist, nämlich Befreiung und Erlösung.
Meinen Sie nicht auch, dass man sich in einer solchen Kirche wohlfühlen kann? Ich meine schon, denn da herrscht dann auch ein gesundes Klima; da hört man Worte, die guttun; da geht man heilend und heilsam miteinander um; da sorgt sich der eine um den oder die andere und man spürt eine herzliche Zuneigung und Zuwendung.
Wie hieß die These der Wissenschaftler, die ich Ihnen anfangs mitgeteilt habe: „In der Regel nimmt der Kirchenbesucher aus einem Gottesdienst nur das mit, was er auch vorher schon gewusst hat!“ Gott sei Dank gibt es Ausnahmen von dieser Regel, denn die Frohe Botschaft kann auch so betroffen machen, dass ich mit anderen Betroffenen zusammen ein neues Verhalten einüben und Einstellungen verändern will; ja, dass ich mir einen neuen Anfang schenken lasse. Das abschreckende Beispiel der Pharisäer und das Vorbild einer geschwisterlichen Kirche – es ist für uns die Chance, alte Regeln endlich zu durchbrechen. Und ich würde sagen: „Davon darf’s ruhig a bisserl mehr sein!“ Amen.
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Erstellt am: 30.10.2011 13:55 Uhr




