L I: 1 Kön 17, 10-16 / Ev: Mk 12, 38-44
Schwestern und Brüder!
Heute kommen sie also mal wieder „dran“, die Selbstgerechten, die Rechthaber und Wichtigtuer; all jene die so fromm tun und die doch nur ihren Eigennutz im Blick haben, die Scheinheiligen und Heuchler – mit einem Wort: die Pharisäer. Und wie es oft bei Menschen der Fall ist, die so eindeutig in eine Schublade gehören, ist man zunächst natürlich nur froh, nicht selbst dazu zu gehören. Fast automatisch entsteht so ein Gefühl der Abgrenzung: Bin ich froh, dass ich nicht so bin wie die!! Merken Sie es? Da passiert etwas ganz Verflixtes: Indem ich nämlich ein derartiges Verhalten strikt von mir weise, laufe ich Gefahr, selbstgerecht und heuchlerisch zu werden. Es ist auf einmal gar nicht mehr so klar, wer denn nun mehr heuchelt, die Pharisäer oder der, der eben der Auffassung ist, nichts aber auch gar nichts Pharisäisches an sich zu haben. Das Evangelium selbst mit seiner Schwarz-Weiß-Schilderung, kann uns dazu verleiten, um ein Haar selbst zum Pharisäer zu werden. Deshalb ist es gut, es wirklich auch mit einem nicht unerheblichen Maß an Selbstkritik zu lesen und zu hören.
Was wird uns geschildert: Auf der einen Seite Menschen, die sich mit ihrem Reichtum produzieren und auf der anderen Seite eine unbedeutende Frau, die ein paar Pfennige in den Opferkasten wirft. Man könnte nun über diese hilflose Geste mit einem müden Lächeln hinweggehen, denn: was will man denn mit Pfennigen oder wir würden heute sagen „mit ein paar Centimos“ schon bewirken? Aber Jesus denkt anders. Was diese Frau tut, das ist in seinen Augen unendlich wichtig. Und deshalb stößt er seine Jünger quasi mit der Nase drauf: Nicht die Vornehmen und Erfolgreichen, die sich in ihrem Ansehen sonnen, sind es, auf denen das Wohlgefallen Gottes ruht, sondern es ruht auf dieser Frau, die alles hergibt, was sie besitzt.
Was diese Witwe tut, schätzt Jesus unendlich hoch ein. Welch ein Kontrast zu unserer heutigen, fast schon selbstverständlich gewordenen Praxis. Denn Jesus stellt hier doch so ziemlich alles auf den Kopf, was unter uns heute gängig und üblich ist. Bei ihm zählt eben nicht die Leistung oder die Position, die jemand erreicht hat. Was bei ihm und was vor Gott allein zählt, das ist die ganz selbstverständliche alltägliche Güte; das sind die vielen unbeachteten Gesten und Taten der Liebe, wie sie zwar jeden Tag tausendfach auf unserer Erde geschehen, was so aber in keiner Zeitung steht und deshalb häufig nicht beachtet wird. Doch in dem Jesus hier das Verhalten der Frau in den Mittelpunkt stellt und ehrt, stellt er gleichzeitig unsere Maßstäbe auf den Kopf. Und soll ich Ihnen etwas sagen? Bei Licht betrachtet finde ich das sogar ausgesprochen wohltuend, weil sich doch so viele in unserer unbarmherzigen Leistungsgesellschaft total überfordert, ausgesaugt und unter einen permanenten Druck gesetzt fühlen.
Da bringt zum Beispiel ein Kind in der Schule nicht das an Leistungen, was die Eltern von ihm erwartet hatten. Die Enttäuschung ist groß bei ihnen und sie lassen das ihr Kind spüren. Wäre es nicht besser und weitaus menschlicher, wenn sie ihr Kind spüren ließen: Wir nehmen dich so an, wie du bist? Sind Leistung, Intelligenz und gute Schulnoten wirklich das Wichtigste? Mir jedenfalls tun manche Kinder heute leid, die aufgrund der Erwartungshaltungen verschiedenster Seiten, schon in jungen Jahren tagtäglich mit Magenschmerzen den Weg in ihre Schule antreten.
Oder da hat jemand im Beruf nicht die Position erreicht, die er sich zugetraut hatte. Natürlich kann einem das ganz schön zusetzen, kann an einem nagen, oft bis an den Rand der Selbstzerstörung. Es kann sein, dass einen eine solche Enttäuschung ein ganzes Leben lang nicht mehr loslässt. Wäre es da aber nicht besser und hilfreicher, die Situation, in der man lebt, einfach zu bejahen, sie anzunehmen – auch wenn es noch so schwer ist? Natürlich bin ich mir bewusst, dass das ein langer, oft mühseliger und schmerzlicher Lernprozess ist. Oder denken wir einfach mal an das Ende des Berufslebens. Nicht selten habe ich erlebt, wie jemand sich ganz immens auf den Ruhestand gefreut hat. Doch als dann endlich der Tag des Renteneintritts da war und damit verbunden die so lang ersehnte Freiheit von allem Druck, da stellte sich kein Glücklich-Sein ein, sondern vielmehr urplötzlich die Frage: Wozu bin ich jetzt überhaupt noch gut? Ich werde ja nicht mehr gebraucht – weder in der Firma und vielleicht sogar nicht mal mehr in meiner Familie. Wäre es da aber nicht besser, sich schon in jüngeren Jahren um eine Sichtweise zu bemühen, die weiß: Nicht nur Leistung gibt unserem Leben einen Sinn? Ich kann und darf mich auch an den Schönheiten der Welt und an den Geschenken des Lebens erfreuen – und ich will ganz bewusst ein solches Verhältnis zu meinen Kindern pflegen, dass sie wissen und spüren: Sie leben ihr eigenes Leben; aber ich interessiere mich unaufdringlich für sie und schenke ihnen das Gefühl: wenn ich Mutter oder Vater brauche, dann sind sie für mich da!
Damit wir uns jetzt aber bitte nicht falsch verstehen. Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass es quasi vollkommen ausreichend wäre, wenn wir halt so in den Tag hineinleben – mitnichten. Natürlich sollen wir versuchen, unsere Fähigkeiten zu erkennen, sie einzusetzen und zu fördern, aus unserem Leben etwas zu machen. Aber bei einem Schüler ist es vielleicht eben nicht das Studium das angesagt ist, sondern ein handwerklicher Beruf. Beim einen ist nicht der Abteilungsleiterposten angesagt, sondern vielmehr der kollegiale Mitarbeiter mit dem offenen Ohr für die anderen im Betrieb. Und Ruhestand heißt doch nicht, ein Leben abseits von Politik und den großen Menschheitsfragen zu führen, sondern sich einzubringen und sich einzumischen, wo man das Gefühl hat, sich äußern zu müssen. Andererseits sollte uns aber auch immer vor Augen sein: Die Stellung, die ich erreicht habe oder auch das Ansehen, welches ich genieße (oder vielleicht auch nur zu genießen meine), all die berufliche oder auch gesellschaftliche Position, die ich vielleicht erklommen habe – das sind nicht die letzten Werte, die meinem Leben einen Sinn geben. Gott sei Dank nicht.
Unsere Gesellschaft, die sich ganz der Leistung verschrieben hat, droht sich im Moment totzulaufen; neue krasse Ungleichgewichte drohen sich einzustellen. Was Banker und Ratingagenturen, Fußballspieler (um nur eine Sparte des Sports herauszugreifen) oder Unterhaltungskünstler und natürlich auch so mancher Unternehmer an Geld einstecken, das hat in meinen Augen mit Gerechtigkeit nicht mehr viel zu tun. Das sehen zwischenzeitlich immer mehr Menschen so und es gibt ja auch schon heftige Proteste dagegen. Die Politik müsste die Finanzmärkte viel strenger unter Kontrolle nehmen, soll das Ganze am Ende nicht aus dem Ruder laufen. Sicherlich – solche Sachen hat Jesus damals nicht im Blick gehabt; konnte er ja auch nicht. Aber wir müssen heute darauf reagieren.
Schauen wir noch einmal auf das Evangelium: Die Witwe steht hier für einen Menschen, der höchstens das zum Leben hat, was er an einem Tag braucht. Armut war das häufige Los der Witwen in der Zeit Jesu. Wenn nach dem Tod des Ehemannes eine Ehe mit dem Schwager nicht zustande kam und auch nicht die Möglichkeit bestand, in die eigene Familie zurückzukehren, dann lebten Witwen schnell unterhalb der Armutsgrenze. Sie hatten auch niemanden, der ihre Rechte verteidigte. Witwe zu sein, das bedeutete meist ohne Einkommen zu sein und vom Betteln zu leben; schutzlos, ausgeliefert, bedürftig und von anderen abhängig. Nicht ohne Grund wählt unser Text gerade eine solche Person als Beispiel. Wer kaum das Nötigste hat und das aber noch mit anderen teilt, der hat tatsächlich etwas von der Botschaft Jesu verstanden. Da geht es nämlich nicht mehr um moralische Leistungen, wie es vor Gott eh nicht Ziel sein kann, Leistungen moralischer Art vorzuweisen. Da spielt auch die Quantität dessen, was man gibt, keine Rolle mehr. Es geht vielmehr darum, etwas von der Großzügigkeit Gottes zu leben. Je weitherziger jemand ist, umso näher ist er nämlich an der Botschaft Jesu dran. Wem es vor allem darum geht, vor den anderen zu glänzen und gut da zu stehen, wer groß herauskommen will und nur um seinen eigenen Vorteil bemüht ist; der oder die ist zwar nicht zu verurteilen – das sollten wir nicht tun – aber ich denke schon, dass ein solcher Mensch doch weit weg ist von dem, was Jesus in seiner Frohen Botschaft verkündet. Und da denke ich jetzt nicht nur an die Pharisäer.
Erinnern Sie sich an den Anfang meiner Gedanken? Ich habe gesagt, dass wir oft Gefahr laufen, einen Text vorschnell so zu lesen, dass wir ihn bzw. die Menschen, die er nach unserer Auffassung in erster Linie anspricht in eine bestimmte Schublade stecken. Nur meine ich: Wenn wir ehrlich sind, dann können wir uns alle – Sie und ich – uns im heutigen Evangelium nicht eindeutig einer Seite zurechnen. Denn ich glaube, dass in jeder und jedem von uns etwas von der Engstirnigkeit eines Pharisäers, aber auch von der Großherzigkeit der Witwe steckt. Und deshalb steht jeder und jedem von uns eben auch ein gesundes Maß an Selbstkritik gut an, statt sich nur vorschnell über die Pharisäer zu erheben und so selbst zu einem solchen zu werden. Amen
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Erstellt am: 11.11.2012 19:25 Uhr