Liebe Gemeinde!
„Wer bist du?“, fragt die alte Frau, als ihre Tochter sie im Heim besuchen kommt. „Aber ich bin doch Anne, deine Tochter“, antwortet diese geduldig. „Dann ist es gut“, lächelt die Mutter ihr entgegen und lässt sich von ihr berühren. So ist es bei jedem Besuch von Neuem. „Wer bist du denn?“, fragt in der Großstadtgemeinde der Mesner kritisch den jungen Mann mit dem Ring im Ohr, der ins Gemeindehaus will. „Ich bin Stefan, der neue Praktikant“, antwortet dieser. „Ach so“, sagt der Mesner und blickt ihm misstrauisch nach.
„Wer bist du schon?“, wirft der Sohn seinem Vater entgegen, als dieser ihm Vorwürfe machen will wegen des abgebrochenen Studiums. „Du hast es doch nicht einmal zum Meister gebracht.“ „Wer bist du?“, fragt das Mädchen den jungen Mann, der es zum Tanzen eingeladen hat. „Erzähl mir von dir. Ich möchte dich kennen lernen.“
„Wer bist du?“ – immer wieder werden wir so gefragt, fragen uns manchmal auch selbst so vor dem Spiegel. Je nach Situation und Tonlage kann diese Frage gleichgültig, abwertend, zynisch, neugierig, offen und interessiert gemeint sein. Die Frage, wenn sie ehrlich ist, eröffnet die Kommunikation zwischen zwei Menschen. Von ihrer Antwort hängt dann ab, wie es weitergeht. „Wer bist du? Kenne ich dich? Kann ich dir vertrauen? Können wir miteinander ins Gespräch kommen? Können wir uns aufeinander einlassen?“
Frage und Antwort klären die Identität ab, machen deutlich, mit wem wir es zu tun haben und ob eine Beziehung entsteht. Und immer geht es dabei um mehr als nur biografische Daten. Es geht um die Persönlichkeit eines Menschen, um sein Wesen, um seinen Charakter, um die Fülle seiner Eigenschaften.
Auch Jesus wurde gefragt: „Wer bist du?“ Pilatus hat ihn so gefragt, die Jünger haben ihn gefragt, die Pharisäer und Schriftgelehrten, später auch Paulus. Nicht immer war die Frage ehrlich gemeint. Die Jünger haben sie vor lauter Scheu manchmal kaum zu stellen gewagt. „Wer bist du, Jesus?“ Dass er der Sohn der Maria war, wussten sie natürlich. Auch dass er aus Nazareth in Galiläa stammte. Aber wer war er wirklich? Wer war er hinter der äußeren Erscheinung? Musste er nicht mehr und anderes sein als nur dieser Mann aus Nazareth, so wie er predigte, wie er Kranke heilte, wie er mit den Menschen umging? Was war sein Geheimnis?
Auch heute, nach 2000 Jahren, fragen Menschen: „Wer bist du, Jesus? Wer bist du wirklich?“ Ja wirklich, was wissen wir von ihm? Was war er für ein Mensch gewesen damals? Wer verbirgt sich hinter dem Bild von ihm, das die Kirche und ihre Lehre und ihre Tradition von ihm gemacht haben? Was ist das Besondere an ihm?
Für viele ist er längst eine überholte Gestalt der Kirche. Er interessiert sie einfach nicht mehr. Er lässt sie gleichgültig. Andere können nur schwer etwas mit ihm anfangen. Zu kompliziert erscheint ihnen, was von ihm erzählt und gepredigt wird. Und für wieder andere ist alles ganz klar. Er ist der Messias, der Sohn Gottes. Was gibt es da noch zu fragen? Nicht wenige interessieren sich wirklich für ihn. Sie wollen mehr wissen. Sie wollen vor allem wissen, was sie denn glauben können, was ihr Vertrauen begründet. Sie suchen das Gespräch. Und so ist seine Anziehungskraft auch heute noch ungebrochen.
„Wer bist du, Jesus?“ – um diese Frage geht es auch im Predigttext für diesen Sonntag. Er steht im Johannes-Evangelium. Dieses Evangelium wurde etwa gegen Ende des ersten Jahrhunderts verfasst. Johannes hat dabei ein Gespräch Jesu mit einigen seiner jüdischen Zuhörer nach gezeichnet. Die Juden kommen dabei nicht gut weg und Jesus selber eigentlich auch nicht, wie ich meine. Ich glaube aber nicht, dass Jesus dieses Gespräch selber so geführt hätte. Aber Johannes wollte damit etwas sagen, was für ihn selber und seine Leser ungeheuer wichtig gewesen ist. Die Frage, wer Jesus denn wirklich sei, war für sie eine Antwort auf Leben und Tod. Denn ob jemand ihm vertrauen konnte, an ihn glauben, ihm nachfolgen, sein Wort halten davon hing die Zukunft und das ewige Leben ab. Und, darum war die Frage so wichtig: „Wer bist du?“
Ich lese aus dem Johannes-Evangelium Kapitel 8,21-30.
Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.
22 Da sprachen die Juden: Will er sich denn selbst töten, dass er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen?
23 Und er sprach zu ihnen: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.
24 Darum habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden.
25 Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Zuerst das, was ich euch auch sage.
26 Ich habe viel von euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt.
27 Sie verstanden aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach.
28 Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich.
29 Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.
30 Als er das sagte, glaubten viele an ihn.
Hart und schroff ist die Antwort, die der Evangelist Jesus geben lässt. Und eigentlich ist es keine Antwort. Der Text ist das beste Beispiel für ein im Grunde gescheitertes Gespräch. Es kommt keine Beziehung zwischen Jesus und seinen Zuhörern zustande. Sie verstehen ihn nicht. Womöglich ist ihre Frage auch gar nicht ernst gemeint gewesen, eher im Sinne von „Wer bist du schon?“ Und er, Jesus, deckt in seiner Antwort nur die ungeheure Distanz zwischen sich und ihnen auf. „Ich bin von oben, ihr seid von unten. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen. Ihr werdet in euren Sünden sterben.“ Hat dieses Gespräch überhaupt eine Chance?
Erstaunlicherweise heißt es am Ende: „Als er das sagte, glaubten viele an ihn.“ Man muss wohl mehr als nur auf diese kurze Gesprächsskizze sehen, um eine solche Wandlung zu verstehen. Man muss das ganze Evangelium in den Blick bekommen. Ja, Jesus kommt von oben. Er ist den Weg nach unten gegangen. Er ist nicht von dieser Welt. Er ist in diese Welt eingegangen, ist „Fleisch geworden“, wie das Johannes-Evangelium am Anfang schreibt.
Und hier erzähle ich nun Geschichten von der Begegnung Jesu mit den Menschen seiner Zeit, mit einfachen Leuten wie seinen Jüngern, mit den Kranken, mit den Sündern, besonders von seiner Begegnung mit den Frauen:
Jesus und die Samaritanerin – Joh 4,5-26 – in Auszügen
5 Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab.
6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde.
7 Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken!
8 Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen.
9 Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. –
10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und der gäbe dir lebendiges Wasser.
11 Spricht zu ihm die Frau: Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser?
12 Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh.
13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten;
14 wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.
15 Spricht die Frau zu ihm: Herr, gib mir solches Wasser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss, um zu schöpfen!
25 Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.
26 Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.
Jesus und die Ehebrecherin – Joh 8,2-11
3 Die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte
4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden.
5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?
6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.
10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?
11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
Diese Geschichten vom Jesus, der zu denen „ganz unten“ gegangen ist, sind es allein noch nicht, die die Frage beantworten „Wer bist du?“. Solches haben auch andere getan, vor ihm und nach ihm. Auch andere sind um einer guten Sache willen gestorben. Der Blick auf den historischen Jesus, wenn wir ihn denn überhaupt je ganz wahrnehmen könnten, erklärt noch nicht, wer er für uns ist. So wenig, wie es für die alte Frau allein schon eine Erklärung ist, wenn ihre Besucherin sagt, sie sei doch ihre Tochter. Oder wenn Liebende sich gegenseitig ihren Namen und Beruf oder noch mehr nennen. Da ist noch etwas anderes. Bei der alten Frau sind es kaum noch bewusste Erinnerungen, die die fremde Besucherin zu der vertrauten Tochter werden lassen. Zwischen den Liebenden ist es die gegenseitige Offenheit, ist es die überwältigende Zuneigung, die sie sich gegenseitig finden und verstehen lassen. Aber es ist ja nicht nur für die alte Frau wichtig, dass sie weiß, dass die fremde Frau da ihre Tochter ist. Auch für die Tochter ist die Antwort wichtig: „Ich bin deine Tochter, du bist meine Mutter.“
Sie wird ihre Mutter immer besuchen, auch wenn diese sie eines Tages überhaupt nicht mehr erkennt, eben weil sie die Mutter ist. Und für Liebende ist es nicht nur von Bedeutung, das geliebte Gegenüber zu kennen und zu erkennen, sondern es auch für sich zu wissen und dem anderen mitzuteilen: „Ich bin derjenige/diejenige, der/die dich von ganzem Herzen liebt.“
Liebe Gemeinde!
Es geht also nicht nur darum, dass mir jemand anderer sagt, und sei es Jesus selbst, wer Jesus ist. Sondern es geht darum, dass ich erkenne und bekenne, wer er denn für mich ist. Die Bibel nennt es Glauben, wenn wir in Jesus den erkennen, der von Gott kommt, der mit Gott ganz eins ist und in dem sich Gott selber uns Menschen mitteilt. Im Glauben allein eröffnet sich uns das Geheimnis der Person Christi. Und wie wir die wirkliche und tiefe Begegnung mit anderen Menschen nur teilweise selber herstellen können, wie uns Liebe und Vertrautheit im Umgang miteinander geschenkt werden müssen, so kann uns auch der Glaube letztlich nur geschenkt werden. Wir können darum immer nur von Neuem bitten.
Amen
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Erstellt am: 25.02.2013 19:30 Uhr