Humoraltherapien
Das aus dem Lateinischen stammende Wort „Humor“ ist im Lauf der Jahrhunderte einem Bedeutungswandel unterworfen gewesen, den wir heute nur schwer nachvollziehen können. In der Medizin steht „humoral“ für alles, was sich auf Körperflüssigkeiten bezieht.Spätestens im Mittelalter wurde erkannt, daß die im Organismus zirkulierenden Säfte das Leben erhalten, und der Gedanke, ihr harmonisches oder in Unordnung geratenes Verhältnis zueinander entscheide über Wohlbefinden oder Krankheit, war im Prinzip richtig. Heute geben die modernen Untersuchungsverfahren allerdings bedeutend weitreichende Aufschlüsse über Aktivität, Beschaffenheit und Inhalt von Körperflüssigkeiten, und unzählige humoraldiagnostische Befunde, die vom Normalen abweichen, vermitteln beinahe allen Fachrichtungen der Medizin unentbehrliche Grundlagen zur Beurteilung von Krankheitszuständen und Hinweise auf Behandlungsmöglichkeiten. Diese Fortschritte der Medizin und ihrer Hilfswissenschaften haben das ärztliche Spezialistentum gefördert. Für fast jede Zone des menschlichen Körpers gibt es Fachärzte, die sich allein ihrem Spezialgebiet widmen und zweifellos beachtliche Erfolge damit erzielen. Die Säuglingssterblichkeit ist rapide gesunken, seuchenartige Krankheiten, die einst ganze Landstriche nahezu entvölkerten, sind überwunden, und unsere durchschnittliche Lebenserwartung ist heute doppelt so hoch wie vor hundert Jahren. Angesichts dieser Entwicklung ist jedoch nicht zu bestreiten, daß die Gesamtschau, der Blick auf den erkrankten Menschen als Ganzes, der ursprünglich im Mittelpunkt heilkundlichen Denkens stand, vielfach vernachlässigt wurde. Unter dem Gesichtspunkt des Helfens spricht zwar manches dafür, erkrankte Organe, schmerzende Körperstellen, mit spezifisch wirkenden Mitteln zu beruhigen. Der Patient wird beschwerdefrei, für den Augenblick ist ihm geholfen, aber der Frage, warum ausgerechnet dieses Organ erkrankte, gerade jene Körperstelle sich schmerzhaft bemerkbar machte, wird in der Regel nicht nachgegangen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Einerseits Zeitmangel und überfüllte Wartezimmer, andererseits ungeduldige Patienten, die auf schnelle Linderung ihrer Beschwerden bedacht, das Verschwinden von Symptomen bereits als Heilung ansehen und ans Auskurieren nicht denken.
So ist manches Leiden, das sich im Lauf von Jahren immer wieder einstellte und jedesmal nur an den Symptomen bekämpft wurde, mit der Zeit „chronisch“ geworden und widersteht zunehmend medikamentöser Behandlung. Hautkrankheiten (Neurodermitis), rheumatische Beschwerden, – um nur einige zu nennen – gehören zu diesen weitverbreiteten Gesundheitsstörungen, und viele meinen, eher schlecht als recht damit leben zu müssen. Die Naturheilkunde widerspricht dieser Meinung. Mit verschiedenen Formen der Humoraltherapie bietet sie bewährte Heilverfahren an, die der Entgiftung des Körpers dienen und damit Voraussetzungen schaffen, unter denen „chronisch“ gewordene Leiden überwunden werden können. Mag auch die urtümliche Lehre von den im Körper zirkulierenden Flüssigkeiten noch mit Vorstellungen umwoben gewesen sein, die wir heute belächeln, im Kern war ihr Denkansatz richtig. Die Heilverfahren von einst vermögen, im Licht neuzeitlicher Erkenntnisse angewandt, in vielen Fällen noch zu helfen, wo die Mittel der Schulmedizin nicht mehr „greifen“, weil die Stoffwechselmechanismen des Körpers überlastet, verstopft oder blockiert sind, so daß allenthalben im Bindegewebe, in den Gelenken und unter der Haut Rückstände aus Verdauungsprozessen lagern, die seit Jahren nicht ausgeleitet, zu allmählicher Eigenvergiftung führen.
Die oft erstrebte Entschlackung und Blutreinigung ist in solchen Fällen mit ein paar Tassen Tee nicht zu erzielen. Mild ausleitende Darmbäder, wie wir sie unter dem Stichwort „Colon-Hydro-Therapie“ beschrieben haben, finden in gezielter Behandlung am Blutstrom sinnvolle und höchst wirksame Ergänzung. Schon im Altertum hat der Blutentzug durch Blutegel sich bewährt. Heute werden diese Tiere eigens für medizinische Verwendung steril gezüchtet und von Apotheken geliefert. An genau vorherbestimmten Körperstellen, zum Beispiel an einem von Gicht befallenen Gelenk oder einem Furunkel, saugen sie völlig schmerzlos in kurzer Zeit belastetes Blut ab, und durch ein Sekret ihrer Mundorgange (Kirudin) wird bewirkt, daß auch nach dem Absetzen noch eine Zeitlang verdünntes, mit Schadstoffen belastetes Blut aus der erkrankten Zone abfließt. Darin liegt der besondere Vorteil dieser Behandlung. Die Fließeigenschaften des Blutes werden durch Hirudin in wünschenswerter Weise verbessert. Auch die seit alters her bekannte Heilmethode des Schröpfens ist nicht aus der Mode gekommen. Es handelt sich dabei um Blutentzug an Körperstellen, die als Reflexzonen tiefer angesiedelter Störungen erkannt sind und sich gegenseitig im Sinn fortwährenden Aufschaukelns negativ beeinflussen. Sie sind weitgehend mit den Headschen Zonen identisch, die ich unter dem Stichwort „Akupunktur“ erwähnt habe. Die Erfahrung hat gelehrt, daß Heilreize durch Schröpfen der Oberfläche gezielt in die Tiefe zu wirken vermögen und dort körpereigene Heilkräfte wachrufen. Rheumatiker zum Beispiel können von dieser Methode erstaunliche Besserung erwarten, besonders, wenn die Nackenzone oder das Schulterdreieck betroffen sind. In ähnlicher Weise wie das Blut, kann auch die farblose Lymphe für Heilzwecke aktiviert werden. Das dafür verwendete, blasenziehende Pflaster enthält als wirksame Substanz den Giftstoff Cantharidin, der durch Pulverisieren getrockneter Käfer der Art Lytta vesicatoria L. (Spanische Fliege) gewonnen wird. Schon im Altertum war die Wirksamkeit dieses Giftstoffes bekannt, und Cantharidinpflaster wurde bis ins Mittelalter hauptsächlich gegen Gicht angewandt. Die nach stundenlangem Einwirken entstandene „Brandblase“ wird je nach der Menge ihres Inhalts entweder entleert oder ganz entfernt und die Wunde mit einer Spezialsalbe versorgt. Nachfließende Lymphe gilt als sicheres Zeichen der angestrebten Heilwirkung, weil an der behandelten Stelle krankhafte Ablagerungen aus dem Unterhautgewebe mobilisiert und ausgeleitet werden. Durch diese „Verbrennung“ wird das Immunsystem der betreffenden Körperregion alarmiert, so das eine Umstimmung stattfindet, die längere Zeit anzuhalten verspricht. Heute wird Cantharidinpflaster meist an chronisch-rheumatisch veränderten Gelenken und im Bereich der Wirbelsäule mit Erfolg angewandt.
Als mildere Form des Ausleitens unerwünschter Ablagerungen hat sich das Baunscheidt-Verfahren bewährt. Sein Begründer, Carl Baunscheidt (1809 – 1873), ein feinmechanisch begabter Naturwissenschaftler, entwickelte den „Lebenswecker“, ein kleines, rohrförmiges Gerät, das an einen Korkenzieher erinnert. Statt der Spindel, die sich in den Korken bohrt, gleitet darin eine kreisrunde, mit dreißig Nadeln gespickte Metallplatte von der Größe eines Zehnpfennigstücks. Das Gerät wird an mehreren Stellen auf die zu behandelnde Hautfläche aufgesetzt, und durch gelinden Federzug läßt der Therapeut die Nadelplatte abwärts schnellen. Kaum spürbar stichelt sie die Haut bis etwa ein Millimeter Tiefe. Es ist weder ein blutlockendes Reizverfahren, noch ein Blasenbildender, wie das Cantharidinpflaster. Auch mit der wesentlich tiefer eindringenden Akupunktur ist es kaum vergleichbar. Selten treten winzige Tröpfchen Blut oder Lymphe aus, aber im Unterhautgewebe wird mit so zahlreichen Stichen auf kleiner Fläche eine Reizwirkung ausgelöst, die man durch Einpinseln mit Spezialölmischungen verstärken kann. So wenig der Patient im allgemeinen von der schmerzlosen Prozedur beeindruckt sein mag, so erstaunt wird er nach einigen Tagen empfinden, daß seine Beschwerden behoben sind. Was an Stoffwechselschlacken vorhanden war, ist über die winzigen Stichwunden ausgeleitet, zum Teil auch, wo mit dem Einpinseln nachgeholfen wurde, in Form kleiner Bläschen herausgeeitert, und sein Immunsystem hat innerlich abtransportiert, was ihm Schmerzen bereitete. Nicht allein Gelenkentzündung (Arthritis), Gicht und Rheuma klingen durch das Baunscheidt-Verfahren überraschend schnell ab. Auch Krankheitszuständen an Organen im Köperinnern, die nach dem Prinzip der Headschen Zonen über ihre Reflexmechanismen in der Haut „um Hilfe schreien“, hilft die milde Reizbehandlung vielfach nachdrücklich ab. So wird sichtbar, daß der erkrankte Mensch als Ganzes und nicht an den Symptomen seiner Leiden behandelt wird.
Auszug aus dem Buch „Der Darm – Basis der Gesundheit“ von J.B.V.
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Erstellt am: 23.01.2009 12:56 Uhr