L I: Neh 8, 2-4a.5f.8-10 / Ev: Lk 1,1-4; 4, 14-21
Schwestern und Brüder!
Kennen Sie diese Geschichte: „In einer Stadt führte ein Seiltänzer seine Kunststücke in schwindelerregender Höhe vor. Zum Schluss kam dann die Hauptattraktion. Der Artist schob eine Schubkarre über das schwankende Seil; als er damit auf der anderen Seite angekommen war, klatschte die Menge begeistert Beifall. Dann fragte er, ob sie es ihm auch zutrauen würden, die Karre wieder zurückzuschieben. Der Beifall wurde noch viel stärker. Da rief der Künstler einem Mann, der direkt unter dem Mast stand, zu: „Trauen Sie es mir auch zu?“ Und begeistert rief dieser zurück: „Aber sicher doch!“ „Ja, dann“, so der Akrobat, „kommen sie doch zu mir herauf und steigen sie ein; ich schiebe sie hinüber!“ Da wurde der Zuschauer leichenblass. So war’s dann seinerseits doch nicht gemeint.
Was wäre Ihnen denn lieber? Applaudierend aus sicherer Entfernung die Akrobatik genießen oder der Einladung folgen und somit zu Mitwirkenden zu werden? Würden Sie sich lieber zurücklehnen, die Vorführung genießen oder würde Sie der Reiz des Außergewöhnlichen locken direkt mit dabei und Teil des Ganzen zu sein?
Zugegeben: Das Risiko, die Artistik und die Akrobatik von Könnern üben auf uns eine große Attraktivität aus. Nur so ist es auch zu erklären, warum Bun-gee-Jumper, Para-Gleiter, Fassadenkletterer oder auch andere Extremsportler bei uns große Bewunderung genießen. Obwohl: Wenn wir es genau nehmen, dann müssen wir sagen, dass diese Überlebenskünstler ihr Risiko ja knallhart kalkulieren und es – Gott-sei-dank und mit Hilfe des TÜV’s und anderer Sicherheitsmechanismen – auch so niedrig wie möglich halten.
Beim Mann in unserer Geschichte wiegt die Entscheidung dagegen weitaus schwerer. Denn da war nicht die Rede von doppeltem Boden, von einem auffangenden Netz oder anderen Sicherungen. Aber dahin will uns die Geschichte ja auch gar nicht führen. Die alles entscheidende Frage für den Mann am Mast lautete: Traue ich dem Seiltänzer? Vertraue ich darauf, dass er mich in dieser Karre heil auf die andere Seite bringt? Kann ich mich auf seine Einladung „einlassen“, weil ich mich ganz auf ihn „verlassen“ kann?
Vertrauen, welches wir anderen schenken, ist immer ein gewagtes Unter-nehmen. Denn die größte Herausforderung für uns Menschen ist ja nicht, dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun, sondern sie lautet vielmehr: Traue ich dem anderen? Lasse ich mich ein auf das, was andere mir sagen wollen? Lohnt es sich, das Risiko von Beziehungen einzugehen, die mich vielleicht sogar verändern, die mich voll und ganz beanspruchen, die Gewohntes in Frage stellen? Und was so natürlich oft schon bei menschlichen Beziehungen mehr als abenteuerlich ist, das gilt in noch höherem Masse für unsere Beziehung zu Gott. Was verändert sich denn da alles in meinem Leben, wenn ich zu diesem Gott „Ja“ und „Amen“ sage? Kann ich ihm vertrauen, mich ihm und seinem Wort ganz und gar anvertrauen?
Die Schrifttexte des heutigen Sonntag bejahen diese Fragen. Wie heißt es da im Evangelium zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu? „Der Geist des Herrn ruht auf mir. Der Herr hat mich gesalbt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, den Blinden das Licht, den Zerschlagenen die Freiheit.“ Und als Krönung des Ganzen wird gesagt, das dies alles nicht erst am St. Nimmerleinstag passiert, dass dies alles grandiose Zukunftsmusik ist – nein, dies alles wird heute Wirklichkeit. „Heute hat sich das Schriftwort er-füllt, das ihr eben gehört habt.“
Im Gegensatz zu uns, die wir oft am gestrigen hängen und auf das Morgen
hoffen; die wir oft zwischen den Versäumnissen von gestern und vorgestern leben und uns Sorgen machen um das Kommende, da ist dieser Jesus ein heutiger, ein spontaner Mensch. Das Heute ist für ihn der Tag der Entscheidung und damit aber auch der Tag des Heils. Deswegen beruft er seine Jüngerinnen und Jünger vom Herd, vom Acker, vom Fischerboot weg – und zwar ohne langes Wenn und Aber! Deswegen handelt er auch, als bei der Hochzeit der Wein ausgeht, als ihn ein Blinder um das Augenlicht bittet oder der Lahme sich wieder frei bewegen will; er handelt auch, als der Taube wieder Anteil am Leben haben möchte und der Aussätzige ihn um eine gesellschaftsfähige Haut bittet. Und deswegen heilt er auch – verbotenerweise und von den Gegnern kritisch beäugt – am Sabbat. Er sagt damit sich und auch uns: Heute muss getan werden, was getan werden kann. Und diese Einstellung, die lässt ihn dann auch in seiner „Eröffnungsansprache“ im bescheidenen Gebetshaus zu Kafarnaum sagen: „Heute hat sich das Wort des Propheten Jesaja erfüllt.“ Damit aber war für alle klar: Jetzt ist das Reich Gottes angebrochen. Durch diesen Menschen und durch das, was er uns sagt, da lässt sich die Welt aus den Angeln heben, wenn nur wir Menschen uns bewegen lassen. Morgen kann es dafür schon zu spät sein.
Das Reich Gottes beginnt heute und nicht morgen. Das wurde zum Leitbild der Verkündigung Jesu in Wort und Tat und es zeigt uns sein Vertrauen, welches er in Gott hatte. Ja, er hat sich getraut, diesem Gott ganz und gar zu trauen. Natürlich bleibt dies nicht ohne Konsequenzen für ihn. In seiner Heimatstadt wird er wegen dieser Botschaft und diesem Vertrauen nicht ernst genommen und in Jerusalem, der religiösen Zentrale wird er zum Tod verurteilt und hingerichtet. Somit können Kritiker jetzt sagen: Wohin hat ihn also sein Vertrauen letztlich gebracht? Und doch glaube ich, dass Jesus gar nicht anders hätte handeln können und seine Auferstehung ist deshalb für mich schlussendlich nichts anderes als die Bestätigung Gottes für all das, was Jesus gewirkt und gesagt hat.
Was aber kann nun genau diese Botschaft Jesu aus dem Buch des Propheten Jesaja, vorgelesen von ihm in Kafarnaum für uns heute bedeuten? Und da beginne ich zu träumen: Ich träume davon, dass wir im Namen Jesu den Menschen, die frohe Botschaft bringen; die frohe Botschaft davon, dass sie eine Perspektive haben in ihrem Leben, weil sie nicht mehr unter der Last ihrer Schuld gebeugt leben müssen. Ich träume von Menschen, die endlich nicht mehr ausgebeutet werden, sondern die aufrecht leben und einen gerechten Lohn bekommen.
Ich träume davon, dass Menschen hier oder in unseren Heimatländern – ob jung oder alt – eine Zukunft haben. Eine Zukunft, die sie mit Arbeit und einem eigenen Einkommen gestalten und bewältigen können. Ich träume davon, dass junge Eltern die notwendige finanzielle Unterstützung bekommen, um ihrer Familie gerecht werden zu können und wir als Gesellschaft die Rahmenbedingungen so verändern, dass junge Menschen auch wieder bewusst Eltern werden möchten.
Ich träume davon, dass Menschen, deren Herz oft genug gespalten ist, Heilung erfahren. Z.B. in dem die Verantwortlichen unserer Kirche endlich über ihren Schatten springen und den Priestern, die geheiratet haben und aus ihrem Dienst entfernt wurden, zusagen: Kommt zurück! Wir brauchen euch! Deren Herzen sind häufig zerbrochen, weil da immer nur ein Gesetz im Vordergrund steht und nicht die Not der Menschen bzw. die Barmherzigkeit Gottes. Ja, ich träume davon, dass jemand in unserer Kirche endlich diese Größe hat und nicht als erstes immer nur danach fragt, was das wohl für Konsequenzen haben könnte. Warum fragen wir denn nicht einfach zuerst, wem was gut tut.
Ich träume davon, dass auch all die Menschen, die aus unsrer Kirche ausgeschlossen worden sind, weil sie nicht mehr so leben können, wie die Kirche es vorschreibt, Orte der Barmherzigkeit, der Gemeinschaft, finden: z.B. all die wieder verheirateten Geschiedenen. Ich träume davon, dass sie in unsere Gemeinschaft hinein dürfen und in unserer Gemeinschaft voll und ganz leben dürfen – und das nicht nur als Gäste des Wortes, sondern auch des Mahles. Ja, ich träume davon, dass wir Menschen dies zusagen, damit ihre gebrochenen Herzen Heilung erfahren.
Ich träume davon, dass Menschen, denen schweres Leid widerfahren ist, an kirchlichen Krankenhäusern nicht abgewiesen werden, nur weil wir zuerst moralische Bedenken erörtern müssen, anstatt Hilfe zu leisten. Dazu gehört für mich auch, dass wir die Gewissensentscheidung von Menschen respektieren und sie nicht einfach verurteilen.
Dann träume ich davon, dass Menschen, die in ihren Gedanken gefangen sind, die nur eine Linie, einen Weg wissen, wahrnehmen, dass es auch noch viele andere Wege gibt, um seinen Glauben zu leben. Ja, ich träume davon, dass wir als Christen unterschiedlicher Konfession einander Gastfreundschaft und Mahlgemeinschaft gewähren und so mehr und mehr den Weg zur Einheit finden.
Ich träume davon, dass es uns – Ihnen und mir gelingt – immer mehr aus dem Geist Jesu, dem Geist der Liebe und der Versöhnung zu leben, und das Risiko von Beziehungen, von Gemeinschaft und Kirche immer wieder neu zu versuchen. Als Gläubige sind wir keine Versammlung mustergültiger Menschen – weiß Gott nicht. Aber wir versuchen uns gegenseitig zu halten und zu stützen; wir tragen und ertragen einander – und: Wir hängen nicht am Gestern oder hoffen auf das Morgen und versäumen dabei das Heute. Nein: Wir trauen der Liebe Gottes und zwar heute und nicht morgen!
So träume ich – aber ich weiß, ich muss in meinem Alltag entsprechend was tun, damit der Traum und dieses Wort Gottes sich auch erfüllt – heute!
Infos unter:
Erstellt am: 27.01.2013 19:30 Uhr
