28. Oktober 2012 – Puerto de la Cruz

21. Sonntag nach Trinitatis
PREDIGT VON Pfarrer Andreas Knüpffer

Predigttextext
Jer 29,1.4-7.10-14
Der Brief des Propheten Jeremia an die Weggeführten in Babel – verfasst zwischen den Jahren 597 vor Christus (erste Eroberung Jerusalems durch die Babylonier) und 587 (in diesem Jahr zerstörte König Nebukadnezar Jerusalem und den Tempel).

1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte.

4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:

5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;

6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.

7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.

10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.

11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.

12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören.

13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Liebe Gemeinde!
Wie haben die Menschen im Exil wohl diese Worte des Jeremia aufgenommen? Eine erste Reaktion ist wenige Verse später zu lesen.
Stellen wir uns vor, wir könnten weitere Briefe lesen – die vielleicht ja tatsächlich geschrieben worden sind – was würden die Menschen uns darin erzählen? Vielleicht Gedanken und Gefühle wie diese:

„Schalom, Jeremia. Ich bin Jonathan, aus dem Rat der Ältesten. Schemaja hat deinen Brief in unserer letzten Versammlung vorgelesen. Er hat dir sicher schon selbst seine Meinung gesagt, so wütend wie er war. Doch möchte ich, dass du auch meine Gedanken kennst, die ich mit vielen hier teile. Jeremia, was du geschrieben hast, ist kaum zu ertragen für uns. Was ist mit den großen Zusagen Gottes für sein Volk – dem Tempel, dem Thron Davids – waren das alles nur leere Worte? Wir warten hier täglich auf Nachrichten, auf Zeichen, die uns hoffen lassen, dass unsere Zeit in Babel bald ein Ende hat, dass wir endlich wieder zurück dürfen. Wir kämpfen uns durch von Tag zu Tag – und dann dein Brief. Wie sollen wir hier leben? Einige gerieten außer sich, als Schemaja las. Aber viele weinten auch und klagten und es war, als wollten ihre Tränen nie mehr versiegen. Tränen, weil wir die Heimat verloren haben. Tränen, weil uns niemand hilft, nicht einmal Gott, Tränen, weil es keinen Trost gibt.

Die Luft riecht anders in Babel, das Wasser schmeckt anders. Die Bäume, die Häuser, die Menschen sehen fremd aus, wir verstehen ihre Sprache nicht – selbst die Vögel scheinen andere Lieder zu singen. Jeremia, wie sollen wir hier leben? Unser König Jojachin ist gefangen im Palast, mit allen seinen Söhnen, wer kann uns noch beistehen? Ja, Jeremia, wir sind angekommen in Babel, angekommen an unserem Ende. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte den Weg nicht geschafft, wäre einfach gestorben und der Wind hätte meine Spuren verweht. Hier geht es nicht mehr weiter. Zukunft und Hoffnung? Nicht mehr für uns.“
Soweit die Worte Jonathans. Sehen wir in einen anderen Brief hinein, den Brief einer Frau:

„Jeremia, es grüßt Dich Hannah. Nun sind wir bereits seit drei Monaten in der Fremde. Meine Familie hat ein Haus bekommen, klein, nicht so, wie wir in Jerusalem gelebt haben, aber wir sind zusammen. Das ist das wichtigste, wir haben diesen langen Marsch überlebt und durften zusammen bleiben. Meine Söhne und Töchter vermissen Jerusalem. Aber die Jüngsten sprechen bereits einige Wörter babylonisch und haben keine Angst, wenn wir auf der Straße unterwegs sind und alles ist so anders. Für sie ist es eher ein großes Abenteuer. Für mich wie ein böser Traum – doch mit jedem neuen Morgen brennt die babylonische Sonne es mir in die Seele: „Mach die Augen auf! Dein altes Leben ist vorbei, ein für alle Mal!“

Wo ist nun unser Gott, Jeremia – bei euch in Jerusalem oder bei uns? Hört er unsere Bitten, so weit weg von judäischer Erde? Hört er unser Weinen? Was, wenn du recht hast, wenn wir wirklich hier bleiben müssen?! Wenn uns niemand retten kann? Ich kann mir nicht vorstellen, hier alt zu werden, meine Kinder hier groß werden zu sehen. Wir hatten ganz andere Pläne.“

So könnten sich die ersten Reaktionen auf Jeremias Brief angehört haben. Das Exil dauerte an. Es gab keine schnelle Rückkehr. Erst der Perserkönig Kyros besiegte im Jahr 539 v.Chr. Babylon und ließ das Volk Gottes wieder zurück in seine Heimat ziehen.

(Noch ist es jedoch nicht so weit!)

Vielleicht würde Jonathan nach einigen Jahren folgendes schreiben: „Schalom, Jeremia, Mann Gottes, seit dein erster Brief uns hier erreichte, sind viele Jahre vergangen. Du warst dir sicher, dass wir hier bleiben würden für lange Zeit. Wir hielten es kaum aus, das nur zu denken: Hier bleiben. Es war, wie mit dem Rücken an der Wand zu stehen, die Feinde kommen näher und näher und du tastest, suchst voller Angst nach dem Ausweg und überall sind doch nur undurchlässige Mauern. Es dauerte, bis wir endlich eine Tür fanden. Eine Tür, von der du uns schon damals geschrieben hattest: Leben. Einfach leben! Häuser bauen, säen, pflanzen und ernten, heiraten und Kinder kriegen. Weiterleben – nicht aufgeben. Merken, dass wir noch da sind. Danken, dass wir uns haben, dass wir arbeiten können, dass da Menschen sind, die uns verstehen. Einfach leben. Es aushalten – das neue Leben und das Fremdsein.

Wir treffen uns nun an jedem Sabbat, alle Familien aus unserem Ort. Wir beten, feiern Gottesdienst. Was Gott uns damals sagen ließ, – jetzt wissen wir, dass es stimmt: Gott hat Gedanken des Friedens für uns und nicht Gedanken des Leides. Es tut zwar immer noch weh, nicht dort zu sein, wo wir zu hause sind. Aber wir können auch hier leben, anders, aber wir leben. Und wir spüren, dass Gott bei uns ist. Gott hat sich auch hier in Babel von uns finden lassen, wie er es uns versprochen hat. Weißt du, Jeremia, was überhaupt das Wichtigste für mich ist? Ich weiß jetzt, dass es nicht Gottes Strafe für uns ist, hier zu sein. Es ist einfach der Weg, den wir zusammen und mit Gott gehen. Wir haben uns diesen Weg nicht ausgesucht, aber jetzt ist es unser Weg, weil wir ihn gehen. Jeremia, das hat mir Kraft gegeben. Ich hatte mich am Anfang hier so schwach gefühlt. Und dann habe ich mich entschieden zu leben. Und jetzt lebe ich – vielleicht mehr als vorher!..“

Und lassen Sie uns auch noch in einen späteren Brief von Hannah hineinhören. Wie erging es ihr Jahre später: „Unsere Familie ist größer geworden, meine beiden Ältesten sind bereits verheiratet und wohnen nicht weit von uns. Ich habe selbst noch einen Sohn geboren und wir gaben ihm den Namen Joshua, denn wir wissen: Gott rettet uns. Die Kinder haben mich hier besonders daran erinnert, dass das Leben weitergeht, wenn ich meinen Mut verloren hatte. Gerade die Kleineren! Sie haben mir gezeigt, was wichtig ist. Viele einfache Handgriffe zu Hause fielen mir am Anfang unendlich schwer, als ob ich noch nie Wasser geholt, gewaschen oder gekocht hätte. Als ob immer etwas in mir dagegen ankämpfen würde und in mir eine Stimme spricht: „Das geht hier nicht! So kannst du nicht leben!“ Ja, ich wollte hier nicht leben, aber nun musste ich es. Und meine Kinder brauchten mich. Ich wollte, dass es ihnen gut geht. Ich konnte nicht nur auf mich schauen. Und genau dadurch begann ich auch zu verstehen, was du uns damals geschrieben hattest: „Suchet der Stadt Bestes, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.“ Nicht nur auf uns schauen! Doch für unsere Feinde beten, für die, die uns das alles angetan haben, die jetzt auch unseren Tempel in Jerusalem zerstört haben, denen etwas Gutes tun? Wir konnten es nicht verstehen. Wir dachten an Rache, wir klagten, wir überlegten, wie wir die Babylonier strafen könnten. Doch es war, wie gegen Mauern anzurennen. Und irgendwann konnten wir unsere Hassreden selbst nicht mehr hören, sie nahmen uns die Luft zum Atmen, machten uns das Leben nur noch schwerer.
Wir begannen, auch für Babylon zu beten. Gemeinsam – an jedem Sabbat. Und zuhause – mit den Kindern. Wir schlossen alle in unser Gebet ein: die in Jerusalem und die in Babel. Und gerade den Babyloniern Frieden zu wünschen, das veränderte mich. Ich begann Babel anders zu sehen, neu hinzuhören, wenn ich auf der Straße war. Ich begann in den Babyloniern Menschen zu sehen, die auch einfach nur leben wollten, so wie ich. Ihnen – immer wieder – von ganzem Herzen Frieden zu wünschen, bringt mir Frieden“

So weit die Briefe aus Babylon. Wie geht es uns heute mit dem Brief des Jeremia als Predigttext, diesen Phantasie-Briefen, diesen Gedanken?
Liebe Gemeinde, Gott möchte, dass wir uns der Welt zu wendet. Wir Christinnen und Christen sind aufgerufen, die Menschen um uns herum in den Blick zu nehmen. Das gehört zum Kernauftrag der Kirche. Wir sollen uns nicht nur mit uns selbst begnügen und uns gemütlich zurücklehnen. Egal wo auf der Welt wir leben. Eine Heimat, eine wirkliche Heimat, gibt nur Gott uns. Wir können uns auf dem ganzen Erdball an ihn wenden. Und er möchte überall auf der Welt bei uns sein. Wenn wir das glauben können, dann haben wir eine Heimat bei Gott gefunden. Eine Heimat, die uns keiner nehmen kann. Eine Heimat, die uns ein Stück weit unabhängig macht von den Umständen, in denen wir leben. Deshalb können wir mit immer neuem Mut in die Zukunft gehen. Im Glauben an Gott wird uns die Welt weiter, öffnen sich immer neue Türen in unserem Leben. Im Glauben an Gott sind unsere Füße auf einen weiten Raum gestellt. Und wir können das tun, was Gott mit uns vorhat, der sagt:
„Ich gebe euch Zukunft und Hoffnung.“
Amen

Infos unter:

Erstellt am: 28.10.2012 18:42 Uhr

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