Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis 2012 (04.11.)

Lesung: Dtn 6, 2-6 / Evangelium: Mk 12, 28b – 34
Schwestern und Brüder!

Welches Gebot ist das Wichtigste? Das klingt nach einem Aufsatzthema für einen Schüler, der in den Nachmittagsstunden nachsitzen und dazu mindestens zwei Seiten verfassen muss. Doch wie anfangen? Genau das hab ich mir auch überlegt. Wie kann ich dieses Thema anfangen, nachdem es ja bei der Kirche fast ständig präsent und deshalb bei vielen – seien Sie mir nicht böse, wenn ich das so sage – einfach überreizt und „gegessen“ ist.

Deshalb habe ich mir gedacht, ich werfe mit Ihnen heute mal einen Blick in ein sogenanntes Heimatmuseum. Da kann man nämlich häufig das noch bestaunen, was uns zu einem besseren Verständnis dieses Themas heute  dienen kann: ich meine die großen Webstühle, wie sie vor 200 Jahren in vielen Häusern anzutreffen waren. Wer auf einem solchen Stuhl ein Tuch weben wollte, der musste zuerst die vielen vertikalen Fäden spannen – genannt: die Kette. In diese wurden dann mit dem Schiffchen horizontal die Schussfäden hinein gewebt. Einerseits faszinierend, aber eben auch durchaus mühsam und zeitraubend. Vom Spannen der Fäden bis hin zum fertigen Tuch vergingen oft Wochen, manchmal Monate. Aber ich finde, es ist für das heutige Evangelium und das, was es uns sagen will, ein mehr als treffendes Bild. Denn es geht ja hier um die Liebe zu Gott, die Liebe zum Mitmenschen – und nicht zu vergessen – die Liebe zu sich selbst. Mit dem Thema der „Liebe“ hat Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten damals nicht unbedingt verblüfft, wohl aber damit, wie eng er die verschiedenen Adressaten der Liebe miteinander verknüpft.
Wenn wir uns das Bild des Webstuhls dazu nochmals vor Augen führen heißt das: Mit Kette und Schussfaden allein kann man ja nicht viel anfangen. Nur in ihrer Verknüpfung entsteht ein Tuch, das uns kleiden und wärmen kann. Und genau so verhält es sich auch mit der Liebe: Wer die Liebe zu Gott über alles stellt; wer betont, dass es allein auf die Beziehung zu Jesus Christus ankomme und den Glauben an ihn, der besitzt durchaus eine Religiosität mit vielen vertikalen Fäden. Und wer noch so fromm ist, wer noch so viel betet und Gottes Gebote befolgt wie damals die Pharisäer, oder wer heute predigt, sich doch von der Welt abzugrenzen und das Heil in einem Leben abseits der Gesellschaft zu suchen – der spannt zwar viele, viele vertikale Fäden, aber er bewirkt – und das muss uns einfach klar und deutlich sein – nach den Worten Jesu schlussendlich nichts, aber auch gar nichts.
Andererseits gilt natürlich auch: wer jetzt seine Religiosität einzig und allein auf eine reine Menschenliebe reduziert, der hat zwar viele horizontale Fäden, gar keine Frage – nur: diese haben keinen Halt und sie landen irgendwann als Knäuel am Boden. Es stimmt schon: Kette und Schussfaden machen uns deutlich – wir brauchen beides. Nicht nur, weil Gottes-, und Nächstenliebe in der Bibel grundsätzlich zusammen vorkommen, sondern vor allem, weil sie nicht getrennt voneinander existieren und nur in der Verknüpfung zueinander dem Leben dienen können.
Aber was heißt denn nun überhaupt: „Liebe“? Das ist ja ein ungemein starkes Wort. Ein solch starkes Wort, dass es bei mancher oder manchem von uns eine Gänsehaut und Fragen auslöst, weil es in unserer Zeit für große Gefühle und die tiefe Sehnsucht nach Angenommensein steht. Gerade deshalb müssten wir aber eigentlich vor dem ungeheuren Anspruch Jesu erschrecken, dass wir uns ferne und nahe Menschen in gleicher Weise lieben sollen. Sicher: Unter den Milliarden Menschen dieser Welt gibt es eine kleine Gruppe, die ich gern haben, die ich vielleicht auch lieben kann. Aber alle Mitmenschen zu lieben, ob ich sie nun kenne oder nicht, das ist doch gar nicht möglich; das zu behaupten halte ich schlicht und ergreifend für vermessen. Und überhaupt: Wie soll ich denn in diesem Sinne den Gott lieben, der für mich gar nicht sichtbar und nicht greifbar ist? Deshalb ist es wichtig zu sehen, was Jesus und seine Zuhörerinnen und Zuhörer damals mit diesem Wort verbunden haben. Im Blick auf Gott war das vor allem: Nach Gott zu fragen, seine Weisungen zu hören, sie wahrzunehmen und zu versuchen, nach ihnen zu leben. Gott lieben hieß für die Menschen einfach: Gott als das unendliche „Du“ des Schöpfers dieser Welt und alles Lebendigen zu erkennen und zu achten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und auch im Blick auf die Mitmenschen hatte das Wort Liebe zunächst fast gar nichts mit dem zu tun, was wir damit verbinden – nämlich Gefühls- und Gemütsbewegungen. Nein, es ging vielmehr darum, Sorge dafür zu tragen, dass es anderen Menschen gut geht: also Schwachen aufzuhelfen, Kranken beizustehen, Leid und Freude der Mitmenschen wahrzunehmen und sie zu teilen.
Ein genau solches Verhältnis zu Gott, das nennt Jesus das vornehmste und erste Gebot. Oder um es in unserem Bild zu sagen: Das ist die Kette, mit der der Webprozess beginnt und ohne die kein Schussfaden gesetzt werden kann. Das Verhältnis von Mensch zu Mensch aber ist genauso bedeutsam und kommt deshalb als zweites Gebot gleichwertig dem ersten hinzu. Man kann also nicht sagen: „Wenn du deine Mitmenschen respektierst, bist du religiös genug.“ Oder: „Wenn du nur gut zum anderen bist, dann ist das dein ausreichender Gottesdienst.“ Nein, die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Mitmenschen und sich selbst sind verschiedene und nicht austauschbare Wirklichkeiten, die aber gleichwertig und aufeinander angewiesen sind – so wie eben Kette und Schussfaden.
Deshalb kann man auch nicht sagen: Entscheidend ist, dass in einer Kirche und Gemeinde einzig und allein würdig gebetet und intensiv Gottesdienst gefeiert wird. Und das karitative Engagement kommt dann irgendwie von selbst. Das stimmt weder im Blick auf Jesus noch im Blick auf besonders fromme Zeitgenossen. Es soll eben nicht so sein, dass man mit verklärten Augen wie in einem kitschigen Bibelfilm oder mit einem Heiligenschein umleuchtet durch die Welt wandelt, gleichzeitig aber durch den Mitmenschen durchzusehen scheint und ihn als Gegenüber überhaupt nicht wahrnimmt. Nein, Christen sind nicht wie der Hoffmannsche „Hans-guck-in-die-Luft“, sondern sie verfügen über eine starke Bodenhaftung und einen wirklich offenen Blick auf das, was um sie herum geschieht.
In den Worten und Taten Jesu wird ja auch sichtbar, was er mit Nächstenliebe meint und wogegen sie sich stellt: Wer andere Menschen ausnützt und ausbeutet, dem ist doch der andere als Person völlig gleichgültig – oder nicht? Da zählt doch allein nur der Nutzen für einen selbst. Der Mitmensch aber wird entmenschlicht und zu einer Sache degradiert. Die Liebe dagegen sieht immer den Menschen – gleichgültig wie sympathisch oder auch unsympathisch mir dieser auch ist; ich nehme ihn ernst mit all dem, was ihn ausmacht und was er braucht. Lassen Sie mich dazu zwei Beispiele anführen:
Jugendliche haben ja heute manchmal einen Ton drauf, der einem ab und an fast die Sprache verschlägt. „Was willst du, Alter? Ich mach, was ich will. Keiner hat mir was zu sagen.“ Wenn ich in gleicher Weise reagiere oder den Jugendlichen ignoriere, wird sich nichts ändern. Ein Aufmerken konnte ich aber schon beobachten, wenn ich den Jugendlichen achte und ihm sage: „Erkläre mir doch, was du damit meinst?“ oder: „Wenn wir uns beide so anmachen, dann hilft uns das nicht.“
Das zweite Beispiel: Wenn in vielen Feldern unserer Gesellschaft der Eigennutz das höchste Gebot ist und für Firmen und Banken Gewinnmaximierung an oberster Stelle steht, wenn zwar – wie im deutschsprachigen Raum – die Arbeitslosenzahlen fast beständig sinken, aber immer mehr Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, dann besteht die Gefahr, dass diese Menschen an den Rand gedrängt werden oder in Not geraten. Oder wenn hier in Spanien die hohe Arbeitslosigkeit dazu führt, dass Menschen mit immer niedrigeren Stundenlöhnen ausgenutzt werden, dann muss man sich nicht wundern, wenn das Unverständnis und der Zorn gerade dieser Menschen zunimmt; vor allem, wenn sie andererseits sehen, dass der Steuerzahler mit Milliarden Euro den Kurs der Währung und marode Banken stützen muss und letztere weiterhin astronomische Vorstandsgehälter bezahlen und – kaum gerettet – schon wieder dabei sind, Geld in hohem Maße zu verzocken.
Worauf es wirklich ankommt, das hat Jesus sehr deutlich gemacht: Weg von einem bewusst- und rücksichtslosen Egoismus, hin zum Du Gottes, zum Du des Mitmenschen und in der Liebe zu sich selbst handeln – Tag für Tag immer wieder neu. Erst dieses Ineinander, dieses Geflecht aus Kette und Schussfaden, aus Achtung gegenüber Gott, Mitmensch und sich selbst kann dann zu einem Stoff werden, an dem unsere kleine und auch die große Welt Wärme und Leben findet. Oder anders gesagt: Ich komme Gott nahe, wenn ich anfange ihn zu lieben .Aber ich beginne ihn erst wirklich zu lieben, wenn ich mich selbst annehme und liebe, sowie meine Mitmenschen. Amen.

Infos unter:

Erstellt am: 08.11.2012 20:46 Uhr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert