Liebe Gemeinde!
Die Sonne ging unter. Blutrot war der Himmel im Westen. Die hohen Gebäude der Stadt warfen lange Schatten. Die Hitze stand förmlich zwischen den Mauern. Etwas außerhalb der Stadt am Fluss wohnten die Fremden, verbannte Kriegsgefangene aus den eroberten Provinzen. Eine große Gruppe von Juden war dabei. Sie saßen nun am Fluss und warteten auf den Sonnenuntergang, auf die ersten drei Sterne am Himmel, den Beginn ihres Feiertags, den Sabbat. Das geschäftige Treiben der großen Stadt Babylon war noch gut zu hören, die Gesänge der Priester am Tor des Mondgottes.
Da – einer hatte sie entdeckt: drei Sterne am Himmel: „Gelobt seist du, Gott, König der Ewigkeit“ – der Beginn des Sabbats. Und wie jeden Freitagabend breitete sich Traurigkeit aus hier in der kleinen Versammlung an den Wassern Babels, fern ab von Juda, Jerusalem und dem zerstörten Tempel.
Gewiss, äußerlich mussten sie kaum etwas vermissen. Die Babylonier waren großzügig mit ihnen umgegangen. Sie kümmerten sich nicht sonderlich um die Verbannten, zwangen sie nicht zur Anpassung an die Sitten des Landes. Sie mussten vor allem ihre Religion nicht aufgeben, den Glauben an den einen Gott, der ohne Bild verehrt wurde. Der eine, der Himmel und Erde erschaffen und einen ewigen Bund mit seinem Volk geschlossen hatte. Sie mussten keine Opfer bringen bei den großen Mondfesten, mussten nicht mitlaufen bei den Prozessionen durch das Ischthar-Tor. Nein, auch im täglichen Leben mussten sie wenig vermissen. Sie hatten sich Häuser bauen können und gingen ihrer Arbeit nach. Die Handwerker waren gefragt und geachtet. Nur die Priester hatten Schwierigkeiten, seit der Tempel in Jerusalem zerstört war und neue Versammlungsräume in der Fremde fehlten. So achteten sie auf die Überlieferung und studierten den Willen Gottes aus dem Gesetz – aus der Thora.
Auch diesmal begann der Sabbatgottesdienst mit den gewohnten Gebeten. Doch plötzlich fing einer laut an zu reden und dies ist der heutige Predigttext: (Jes 49,1-6)
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war.
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wie wohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist.
5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet, und mein Gott ist meine Stärke -,
6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.
Ich weiß nicht, wie die verbannten Israeliten auf diese Rede reagiert haben, liebe Gemeinde. Ich weiß nur, wie die Ausleger seither reagiert haben. Denn diese Rede ist aufgeschrieben im Buch des Propheten Jesaja, Kap. 49, Vers 1-6, und wird genannt „ein Gottesknechtlied“.
Liebe Gemeinde!
Wie von ferne klingt das Rufen aus Babylon zu uns herüber, weit übers Meer und weit über die Zeiten hinweg. Denn wir sind die Völker in der Ferne, an die sich der unbekannte Rufer aus dem 6. Jahrhundert vor Chr. wendet. Wir wissen nicht, wem jene Stimme gehört. Ein Gottesknecht wird er genannt. Ist es der Prophet selber, ist es ein anderer, spricht Israel als Ganzes zu uns, den Fernen und Fremden? Wir wissen nichts von ihm und seinem Schicksal. Und doch ist er uns vertraut wie kaum ein anderer: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen“, heißt es an anderer Stelle im Jesaja-Buch von ihm. Und: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ So hat sich Jahrhunderte später in Jesus Christus mit diesem Unbekannten ein Name für uns verbunden, der uns vertraut und kostbar geworden ist und in dessen Schicksal wir eben jenen Unbekannten wieder zu erkennen glauben.
Aber hier ist erst einmal nur diese Stimme eines Menschen, der von seinem Mund spricht, dass er scharf wie ein Schwert sei. Wie einen Pfeil Gottes sieht er sich und sein Reden, wie einen Pfeil, der geflogen kommt und der auch trifft. Dieser Mensch, zu dem Gott sagt: Du bist mein Knecht – dieser Mensch selber bleibt verborgen hinter seinem Auftrag und seiner Botschaft. Er ist nicht wichtig. Wichtig ist, was er zu sagen hat. Es ist, als ob er ganz aufgeht in seiner Botschaft. Das Schicksal des Wortes, das er auszurichten hat, ist auch sein Schicksal. –
Was können Worte ausrichten und anrichten, zum Guten wie zum Bösen. Wie viele Worte werden vergeblich gesprochen: Worte der Eltern an ihre Kinder, Worte von Liebenden, Worte eines Predigers, Worte der Kirche zu Fragen der Zeit, Worte des Friedens und der Versöhnung.
Und Worte, die vergeblich gesprochen werden, machen müde und enttäuschen. Menschen verstummen und werden schweigsam, wenn ihr Wort keine Resonanz findet. Andere müssen für ihre Worte leiden. Sie werden verspottet, lächerlich gemacht, bedroht und auch getötet. Worte der Wahrheit und des Friedens haben es schwer. Und wer sie spricht, wird immer sein eigenes Schicksal damit verbinden. Wie war das bei Dietrich Bonhoeffer, Mahatma Gandhi oder den Geschwistern Scholl? –
Erst recht, wenn es um das Wort Gottes geht! Dieses Wort, das die Welt ins Dasein gerufen hat, das Israel aus ägyptischer Sklaverei heraus rief, das im Gesetz vom Sinai zur Grundlage des Bundes mit Israel, das von den Propheten in Erinnerung gebracht, das von den Juden bewahrt und heilig gehalten wurde und wird. In diesem Wort Gottes, das immer wieder neu ergeht, dem Gott immer wieder neu Stimme verleiht, liegt alles Heil begründet. Es sammelt die Menschen zu Gott, es führt sie, die sich verirren in Unwahrheit und Gottlosigkeit, zurück zu Gott (Vers 5). Das ist seine eigentliche Aufgabe. Und wenn es auch immer wieder zu scheitern scheint, es behält doch sein Recht und seinen Lohn bei Gott (Vers 4 b). Es wird tun, wozu Gott es gesandt hat.
Propheten wie Jeremia und Jesaja, Jesus selbst, aber auch Zeugen des christlichen Glaubens haben sich mit dem Wort ihrer Botschaft identifiziert. Sie haben unter ihrem Scheitern gelitten. Auch jene Stimme, die einmal scharf war wie ein Schwert und treffend wie ein Pfeil, hatte die Vergeblichkeit ihres Bemühens erfahren müssen.
Der Knecht Gottes war müde geworden und hatte resigniert. Das Wort hatte an Kraft verloren, so schien es. Wenn Menschen sich einer Aufgabe nicht gewachsen fühlen, versuchen wir, sie zu entlasten. Aber das ist nicht immer gut. Manchmal braucht ein Mensch mehr oder eine andere Belastung, um seine Fähigkeiten zu entdecken. Gott gibt seinem Knecht eine neue, größere und umfassendere Aufgabe. Er soll Licht der Heiden sein und sein Heil bis an die Enden der Erde tragen. Seine Aufgabe soll sich nicht mehr allein auf Israel richten, sondern bekommt universelle Weite. Das kann kein einzelner. Das kann im Grunde nur Gott selber. Und so sucht er sich für sein Wort Männer und Frauen, die es ausrichten und weitersagen, die für dieses Wort mit ihrer Person einstehen. Ja, dieses Wort nimmt schließlich selbst menschliche Gestalt an. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“, so formuliert es Johannes in seinem Evangelium (Johannes 1,14). In ihm ist das Licht Gottes zu den Völkern gekommen (Lukas 2,29 ff.). In ihm ist das Heil Gottes allen Menschen zuteil geworden.
Heute ist uns das Wort Gottes anvertraut, uns als Kirche und als einzelnen Christen. Gemeinsam mit den Juden tragen wir Verantwortung dafür, dass dieses Wort bewahrt und für die Menschen zum Licht wird, dass es Zerstreute sammelt und Nieder- geschlagene aufrichtet, dass es Frieden und Versöhnung bringt. Damit ist uns ein hohes Gut in die Hände gegeben. Wenn nur unser Mund nicht stumm und das Wort Gottes in unseren Händen wie ein abgebrochener Pfeil wird, der sein Ziel nicht mehr erreichen kann! Aber auch uns wird die Erfahrung nicht erspart bleiben, dass Worte auch einmal nichts ausrichten. Wir werden mit Müdigkeit und Resignation zu kämpfen haben. Ja, es kann geschehen, dass man uns nicht mehr ernst nimmt. Die Kirche verliert an Einfluss. Man hört zwar noch auf sie, aber ihr Reden bewirkt wenig.
Der Gottesknecht weiß, dass sein Lohn bei seinem Gott ist. So kann er sich dem neuen, umfassenderen Auftrag stellen. Als Kirche dürfen wir uns deshalb nicht resigniert zurückziehen und Gottes gute Botschaft preisgeben, sondern darauf achten, vor welche neuen Aufgaben Gott uns stellen will. Vielleicht war es bisher zu wenig, was uns aufgetragen war oder was wir uns selber zugemutet hatten. Es gibt noch so viel mehr zu entdecken an Möglichkeiten, an Fähigkeiten, an Aufgaben. Wir haben jedenfalls die Verheißung Gottes aus dem Jesajabuch: „Mein Wort wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“. (Jesaja 55,11)
Amen
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Erstellt am: 01.10.2012 07:49 Uhr
