L I: Weish 9, 13-19 / Ev.: Lk 14, 25-33
Schwestern und Brüder!
„Halt die Welt an, ich will aussteigen!“ Dieser Spruch, den ich vor kurzem an einer deutschen Schulwand sah, geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ob er nun von Schülern oder jungen Erwachsenen dort hin gesprüht wurde, ist dabei zweitrangig. Wichtig für den oder die Verursacher ist ja einzig und allein, dass er einerseits provoziert und andererseits eindeutig kundtut: Ich komme mit eurer Welt nicht mehr zurecht; ich will mich nicht anpassen und deshalb aussteigen. Nur: Die Welt lässt sich nicht so einfach anhalten wie man ein Auto oder einen Zug anhalten kann – auch wenn wir das manches Mal am Liebsten wollten. Diese Welt dreht sich ungerührt weiter und sogenannte „Aussteiger“ können ihren Lauf nicht stoppen.
Nun ist ja heutzutage vielfach vom Ausstieg die Rede, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Da sprechen die einen – und das nicht nur in den Tagen des Wahlkampfes – davon, dass man aus der Euro-Währung aussteigen oder zumindest andere diesen Währungsausstieg nahelegen sollte. Man spricht vom nicht bewältigten Energieausstieg und dem Ausstieg aus dem so nicht mehr finanzierbaren Gesundheitssystem. Und glauben Sie jetzt ja nicht, dass das schon alles war. Man spricht desweiteren vom Ausstieg aus dem Länderfinanzausgleich, vom Ausstieg aus den Hartz-IV-Reformen usw. usf.
„Halt die Welt an, ich will aussteigen!“, so „aus der Welt“ ist dieser eingangs erwähnte Sprayer-Spruch also keinesfalls; und das gilt nicht nur für den Bereich der Politik. Solche Ausstiegstendenzen sind durchweg auch in anderen Gesellschaftsbereichen und in allen Altersklassen zu beobachten. Da verlassen Jugendliche ihr Elternhaus oder gar ihr Heimatland, um selbständig ihr Leben gestalten zu können oder endlich Arbeit zu finden. Ehepartner verlassen die gemeinsame Familie, um mit anderen glücklich zu werden und Senioren, die es sich leisten können steigen aus und kommen hierher auf die Kanaren, ziehen nach Thailand, Florida oder die Dominikanische Republik – zumindest für einen bestimmten Zeitraum. Und in unserer Kirche? Auch da ziehen viele aus, weil sie einen eklatanten Reformstau bemängeln, die Kirche nur noch als reine Männerbastion wahrgenommen oder ihr einfach die Glaubwürdigkeit wegen der Missbrauchsskandale oder anderer Ungereimtheiten abgesprochen wird. Ausstiege also – soweit die Augen reichen!!
Dass wir heute nun aber auch noch im Gottesdienst zum Aussteigen aufgefordert werden, das empfinde ich doch schon recht ungewöhnlich. Ja Sie haben richtig gehört. Oder wie sehen Sie diese Stelle im heutigen Evangelium, in der die vielen Menschen die Jesus begleiteten, von ihm aufgefordert werden, Familie, Besitz und „das eigene Leben gering zu achten“? Ist das kein klarer Aufruf zum Ausstieg aus dem bisherigen Leben? Und wenn Jesus damals alle dazu aufgefordert hat, müssen dann nicht auch wir uns heute fragen: Meint Jesus das wirklich ernst? Und: Will ich das überhaupt? Vor allem: Widerspricht das nicht all dem, was Jesus an anderer Stelle über die Wichtigkeit von menschlichen Beziehungen gesagt hat? Ich für meinen Teil muss gestehen, dass mir ein solch radikaler Ausstieg schwer fallen würde. Einfach so auszusteigen aus allem, was mein bisheriges Leben getragen und mitgeprägt hat, aus allen sozialen Sicherungen – nein, das ist irgendwie ein wenig viel verlangt!
Andererseits muss ich zugeben: Diese Forderung enthält auch eine reale Erfahrung der ersten Christen. Diese haben gespürt, dass der Glaube an Jesus mehr beinhaltet als nur eine Änderung religiöser Praktiken oder eben eine andere Lehre. Sie haben begriffen, wer eine Beziehung zu diesem Jesus eingeht, der geht auch eine Beziehung zu bislang wildfremden Menschen ein. Oder anders gesagt: Wer sich auf Jesus und seine Botschaft einlässt, der muss auch den Mut haben über den unmittelbaren Lebensbereich der familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen hinauszuschauen. Wer sich auf Jesus und seine Botschaft einlässt, die oder derjenige muss über vorgegebene und selbstgewählte Bindungen hinaus offen bleiben für die größere Wirklichkeit Gottes. Wenn Jesus sagt: „Wer mir nachfolgen will, muss Vater und Mutter, Frau und Kinder, Schwestern und Brüder, ja sich selbst gering achten, sonst kann er nicht mein Jünger oder sie nicht meine Jüngerin sein“, dann wertet er damit die familiären Beziehungen nicht ab, sondern vielmehr um. Er macht deutlich: Diese Bindungen, so wichtig und wertvoll sie sind, sind nicht alles. Oder anders gesagt: Wer nur in seinem häuslichen Umkreis aufgeht, wer sich nur mit seinesgleichen und den eigenen Problemen abgibt, erfüllt den Auftrag Jesu nur zum Teil. Denn Christsein kann eben auch heißen, Zeit und Energie für Menschen aufzubringen, die ich mir eben nicht aussuchen kann und die mir vielleicht sogar mit ihren Problemen und Ansprüchen als Zumutung vorkommen mögen. Aber aus dieser Zumutung erwächst der Mut zur Nachfolge, weil ja auch Jesus sich die Menschen nicht einfach ausgesucht, sondern sie angenommen hat, so wie sie zu ihm kamen und so wie sie einfach waren.
Für mich macht das heutige Evangelium in aller Radikalität deutlich: Als Christen dürfen wir uns nicht nur in unsere eigene, heile Welt zurückziehen; dürfen wir uns nicht in unsere Familie oder in unseren Besitz verkriechen und abkapseln. Wenn wir das tun, dann sind wir schlussendlich wie Salzkörner, die schal geworden sind und Lichter, die keine Leuchtkraft mehr besitzen. Wir wären im wahrsten Sinne des Wortes Aussteiger, die nur noch auf sich selbst fixiert sind, nur noch ihresgleichen suchen, sich in ihrem Privatleben verbarrikadieren, weil sie sich ja schon im Beruf mit so vielen Dingen herumschlagen müssen. Wäre ein solcher Ausstieg aber nicht zutiefst
unchristlich?
Nach meinem Dafürhalten schon und deshalb ist Jesus für mich auch gar
kein Aussteiger, sondern er ist der Einsteiger schlechthin. In ihm ist Gott in diese unsere Welt eingestiegen, um eine Welt zu proklamieren, in der der Mensch und nicht das Gesetz im Mittelpunkt steht und der sich als Einsteiger für einen Ausstieg aus all dem stark macht, was eben wider-menschlich ist und sich somit auch gegen Gott richtet. Gott steigt aus dem Elend dieser Welt nicht aus und deshalb kann auch niemand, der sich Jesus anschließen will, aus dieser Welt einfach aussteigen. Niemand von uns, der sich Christ oder Christin nennt, kann sich in eine Kuschelecke menschlicher Beziehungskisten flüchten und die Signale nur noch auf Sicherheit stellen. Sie und ich – wir können nicht Besitz, Selbstbestimmung, gesellschaftliche Beziehungen oder Privatleben über alles stellen und uns damit zufrieden geben – zumindest dann nicht, wenn wir die Botschaft Jesu ernst nehmen. Zugegeben: Eine solche Sichtweise kann Unannehmlichkeiten in sich bergen. Aber hat Jesus uns eine bequeme Nachfolge, ein bequemes Christentum versprochen?
„Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt kann nicht meine Jüngerin, kann nicht mein Jünger sein“, so haben wir es vorhin im Evangelium gehört. Damit ist aber auch das Kreuz dieser Welt gemeint, das geprägt ist von Unrecht, Gewalt und Krieg. Und genau dieses Kreuz zeigt uns eben auch, dass Gewalt – wenn ich jetzt an Syrien denke – keine Lösung sein kann. Denn Gewalt gebiert immer neue Gewalt – oft nur in anderer Form. Lassen Sie mich dazu ein schreckliches Beispiel unserer Zeit, von Menschen inszeniert, in Erinnerung rufen:
Ende der 70er Jahre wurden irakische Offiziere in den USA für den Einsatz chemischer Waffen ausgebildet. Zehn Jahre später, am 16. März 1988 setzte der irakische Diktator Saddam Hussein chemische Waffen gegen die Kurden ein. Über 5000 Menschen mussten elendiglich zugrunde gehen. Damals passte dieses menschenverachtende Verbrechen noch ins politische Konzept derer, die gleichzeitig die entsprechenden Waffen lieferten. Jetzt im Jahr 2013 in Syrien, soll auf einmal der dortige Diktator, der das gleiche Verbrechen wie Hussein gegen die rebellierende Bevölkerung veranlasste, bestraft werden. Aber es wird noch nicht einmal die Frage gestellt, woher Assad diese chemischen Waffen hat. Und die Leidtragenden? Das werden auch in diesem Fall „nur“ die Menschen auf den Straßen Syriens sein; der Diktator selbst wird von den Bomben und Raketen kaum etwas abbekommen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin nicht für Assad oder gegen Obama. Nein, ich möchte nur, dass wir Jesus und sein Wort vom Frieden ernst nehmen. Aber dieses Wort vom Frieden verbietet uns jegliche Gewalt und fordert Wege des Dialogs. Sicherlich werden uns manche deshalb belächeln oder nicht für „normal“ halten. Aber ein Christ sollte immer auch ein Wegzeichen der Hoffnung für andere sein, weil an einem solchen Leben deutlich wird, dass Gott größer ist als alle menschliche Kleinkariertheit und Enge, die nie über sich selbst hinaus findet.
„Halt die Welt an, ich will aussteigen!“ – das darf für Christen nie gelten. Vielmehr muss es für uns heißen: Halt den Zug an, ich will umsteigen. Umsteigen auf den Zug, der durch diese Welt fährt und in dem Sie und ich als Zeugen für eine menschlichere Welt auf- und eintreten. Amen.
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Erstellt am: 09.09.2013 11:31 Uhr