Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis 2013 (15.09.)

L I: Ex 32, 7-11.13f / Ev.: Lk 15, 1-10
Schwestern und Brüder!
Wer von uns könnte nicht nachvollziehen, was uns da im heutigen Evangelium vom Hirten und der Hausfrau berichtet wird? Gut, vielleicht suchen wir nun nicht unbedingt ein Schaf, weil das ja auch nicht per se zu unserem Alltag dazugehört. Aber eine Geldbörse oder mehr noch einen Schlüssel, das leuchtet schon eher ein. Wer von uns hat Letzteren zum Beispiel noch nie gesucht? Und wenn er dann gefunden ist, entladen sich zuerst einmal all die angestauten Gefühle. Der wiedergefundene Schlüssel wird mit einem lauten: „Ja, das gibt’s doch nicht. Wer hat dich denn hierher gelegt?“ begrüßt.
Solche Geschichten vom Suchen und Finden kennen wir also zur Genüge. Deshalb ist uns aber auch die Gefühlswelt, die einen beim Suchen oft überkommt, mehr als bewusst: Da wird hundertmal alles auf den Kopf gestellt; wird noch einmal jede Ecke durchwühlt und wenn so nichts geht, dann beschuldigt man halt einfach jemanden anderen, weil der oder die das Verlorene schließlich zuletzt in Händen gehalten und wohl schlicht und ergreifend verlegt hat. Der allerletzte Strohhalm, der immer dann ins Spiel kommt, wenn wirklich überhaupt nichts mehr hilft, das ist der – wie wir im Schwäbischen sagen – „Heilige der Schlamper“, der Hl. Antonius. Man verspricht ihm einen Finderlohn, damit das Suchen ja auch klappt; und wenn es denn funktioniert oder wir uns mit seiner Hilfe – gottlob – erinnern, erleben wir die gleiche Erleichterung und Freude, wie sie auch im Evangelium beschrieben wird.
Keine Frage also: Die Situation des Evangeliums können wir nachvollziehen und das Beispiel vom Hirten und der Hausfrau verstehen wir durchaus. Aber geht es Jesus da nicht um mehr? Was will er denn mit diesen Geschichten zum Ausdruck bringen? Und da denke ich, müssen wir einfach genauer hinschauen, um wen es in diesem Gleichnis geht und wer die Adressaten dieser Beispielerzählungen sind.
Im Zentrum steht eben nicht – wie man vielleicht meinen mag – das verlorene Schaf oder die verlorene Drachme, sondern vielmehr deren Besitzer: also Hirte und Hausfrau. Durch diese beiden Figuren macht Jesus seinen Hörerinnen und Hörern deutlich, wie Gott zu uns Menschen ist. Es darf uns bewusst werden: Für Gott ist jede und jeder wichtig, ganz unabhängig von seinem Verhalten und seiner Frömmigkeit, von Fähigkeiten und Grenzen. Gott schreibt niemanden ab und er lässt auch niemanden fallen. Er liebt die Außenseiter genauso wie jene, die sich gesellschafts- und religionskonform verhalten. Er schenkt jeder und jedem die Zuwendung und Zuneigung, die sie oder er braucht.
Ist das aber nicht eine seltsame Rechnung? Sie widerspricht doch all dem, was unser „normales“ Gedankengut ist. Oder sind Sie da anderer Auffassung? Wer von uns würde denn nicht 100 Mitarbeiter entlassen, wenn dadurch 900 ihre Stelle behalten können? Wer von uns würde denn nicht Ja dazu sagen, dass an embryonalen Stammzellen geforscht wird, wenn die Chance besteht, dass sie oder er dadurch von einer schweren Krankheit geheilt werden könnte? Wer von uns würde denn wirklich ernsthaft bezweifeln, dass es sinnvoller ist einem 60-jährigen eine teure Hüftoperation zukommen zu lassen als einem 90-jährigen? Und wer von uns kann – bitte schön – nicht verstehen, dass man hier in Spanien die Zuwanderung von Arbeitskräften am liebsten begrenzen würde, wenn man eben weiß, dass jeder zweite unter 30 Jahren keine Arbeit hat? Es ist alles so verständlich – oberflächlich betrachtet. Doch bei genauerem Hinsehen merkt man erst, wie fragwürdig unsere Gedankenwelt und Logik oft ist. Denn wenn wir den einzelnen Menschen mit seinen Schmerzen, seiner Notlage, seinem ganz persönlichen Schicksal sehen, dann spüren wir eben auch, wie unmenschlich diese, unsere Denkweise, oft ist. Jesus denkt anders, bei ihm ist jede und jeder wichtig. Da ist es der Hochbetagte eben auch noch wert, dass er die teure Operation bekommt, die ihn von seinen Schmerzen befreit. Da ist es der Flüchtling und der Gast wert, dass er Zuflucht und Arbeit bekommt. Und der, der auf die schiefe Bahn geraten ist, ist es wert, dass wir ihm die Möglichkeit geben, wieder neu anzufangen. Der, der mich verletzt hat, ist es wert, dass ich neu auf ihn zugehe und ihm die Hand reiche usw. Sie könnten jetzt sicherlich noch weitere Beispiele anfügen.
Jesus geht also dem einzelnen verirrten Schaf nach bzw. sucht die verlorene Drachme, wie die Frau. Und so wie sich Jesus verhält, verhält sich auch Gott. Bleibt dennoch die Frage: Warum erzählt Jesus das? Gibt es einen Grund dafür?
Die Adressaten dieses Gleichnisses waren ja nicht die Sünder, von denen Jesus hier erzählt, sondern die Führer des Volkes Israel, Schriftgelehrte und Pharisäer. Ihnen sagt Jesus: Warum soll ich mich ausschließlich um euch kümmern? Ihr seid doch schon fromm und haltet euch für mehr als gerecht. Ihr meint ihr wärt so viel besser, dass ihr mich und meine Botschaft gar nicht braucht. Aber die anderen, die, welche ihr als Sünder bezeichnet; die, welche ihr abschreibt, verachtet und ausschließt, die sind darauf angewiesen, dass eben jemand für sie da ist und dass ihnen jemand deutlich macht, welch unschätzbaren Wert auch sie haben.
Eigentlich wäre ja genau dies die Aufgabe der Pharisäer und der Schriftgelehrten gewesen. Aber Jesus macht deutlich, was auch schon die Propheten in der Zeit vor ihm den sogenannten religiösen Führern vorgehalten haben: „Ihr habt meine Schafe zerstreut und euch nicht um sie gekümmert.“ (Jer 23,2) „Die schwachen Tiere habt ihr nicht gestärkt, die Kranken nicht geheilt und den Verirrten seid ihr nicht nachgegangen.“ (Ez 34,4ff). Die Schriftgelehrten verstanden sehr wohl, wovon Jesus sprach – und das musste für sie eine Provokation sonders gleichen sein. Ihre ganze Autorität war in Frage gestellt und dass dieser Wanderprediger für sich in Anspruch nimmt, der von Gott gesandte Hirte zu sein, das schlägt dem sprichwörtlichen Fass den Boden aus. Aber Jesus lässt nicht locker und macht deutlich: So wie der Hirte bergauf und bergab rennt um das Schaf zu finden, so will Gott unsere Rettung. Bei ihm heißt es nicht: „Aus den Augen aus dem Sinn!“, sondern: „Wo bist du, Mensch – wo kann ich dich finden?“ Er schreit auch nicht:“ Schau zu, Schaf, wie du aus dem Gestrüpp herauskommst!“, sondern er nimmt es auf seine Schultern und trägt es heim. Durch Jesus wird vielen Menschen und hoffentlich auch uns deutlich und klar: Bei Gott wird nicht abgerechnet, sondern angenommen. Da wird nicht geurteilt und festgelegt, sondern neu angefangen. Genau das aber müssen heutige kirchliche Strukturen und Autoritäten, genau das müssen wir als Kirche und Christen den Menschen vermitteln.
Wenn dieses Gleichnis Jesu damals den religiösen Führern galt, um ihnen einen Spiegel ihrer Selbstgerechtigkeit vorzuhalten, dann müssen wir uns doch heute als Amtsträger und auch als christliche Gemeinschaft gleichfalls fragen: Ist es auch bei uns so, dass wir Menschen danach be- und verurteilen, was sie einmal getan haben? Ist es bei uns auch der Fall, dass da aufgerechnet und vorgehalten, nach Vorstrafen gefragt und jeder Ausrutscher genau notiert wird? Wenn das so ist, dann sollten auch wir schleunigst einen anderen Weg einschlagen und das Verlorene suchen und ihm eine Chance geben. Denn es ist doch so: Wer jemanden abschreibt, nimmt ihm die Würde. Wer jemanden zum hoffnungslosen Fall erklärt, nimmt ihm die Würde. Wer Menschen als Mittel zum Zweck benutzt, nimmt ihnen die Würde. Die Würde des Menschen aber ist unantastbar, jede und jeder Einzelne immens wichtig und wertvoll. Gleichgültig was er nun getan oder versäumt hat; egal, wohin ihn sein Schicksal oder seine Entscheidungen auch geführt haben. Niemanden sollten wir endgültig auf seine Geschichte, seine Fehler, sein Versagen festlegen.
Eine kleine Geschichte kann uns das am Schluss noch einmal auf den Punkt bringen, was Jesus uns mit diesem Evangelium sagen will. Ein König sollte folgendes Urteil unterschreiben: „Gnade unmöglich, im Gefängnis lassen!“ Das aber kam ihm viel zu hart vor, denn schließlich hatte der Mann Frau und Kinder und sollte für diese baldmöglichst wieder sorgen können. Er änderte deshalb das Urteil um: „Gnade, unmöglich im Gefängnis lassen!“ Merken Sie etwas? Der Wortlaut blieb zwar derselbe, aber die Kommaverschiebung bedeutete Freispruch. Solche Kommaverschiebungen macht Gott bei ihnen und mir tagtäglich – und was hindert uns dann, es untereinander zu praktizieren – oder zumindest es zu probieren?

Infos unter:

Erstellt am: 16.09.2013 10:40 Uhr

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