L II: Röm 14, 7-9.10c-12 / Ev.: Joh 5, 24-29
Schwestern und Brüder!
„Noch hängt der Mantel an der Garderobe, die Handtasche steht griffbereit da, der Regenschirm lehnt noch im Ständer neben der Haustür…es müsste nur die Tür aufgehen. Aber sie bleibt geschlossen. Unsere Mutter ist tot, gestorben nach langem Kampf mit der Krankheit“, so sagen es die Kinder. Vielleicht haben Sie ähnliches in den vergangenen Monaten erlebt. Einen lieben Menschen, ein Elternteil, ein Kind, den Partner/die Partnerin oder einfach einen Freund/eine Freundin verloren. Dann wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn das Begreifen des Verlustes vom Kopf ins Herz übergeht; wie es einen trifft und wie lange es dauert, bis schließlich die Tränen versiegen und die Wunden heilen.
Wenn wir den Gedenktag Allerseelen begehen und dabei an unsere lieben Verstorbenen denken, dann werden wir immer auch mit Fragen konfrontiert, die uns mitunter schwer im Magen liegen. So haben wir vorhin in der Lesung gehört, dass wir – „ob wir leben oder sterben dem Herrn gehören“ und im Evangelium war die Rede vom Gericht am Ende des irdischen Lebens. Solche Texte führen zwangsläufig dazu, dass wir fragen: Wie ist das denn am Ende unseres Lebens? Was erwartet uns, wenn wir die Augen schließen? Bis hin zu den Fragen: Wie geht es unseren lieben Verstorbenen jetzt? Wo sind sie? Und bei allem tröstlichen, welches die christliche Botschaft auch und gerade beim Tod eines Menschen bereithält, tauchen mitunter eben auch Begriffe auf wie „Fegefeuer“ und „Hölle“. Ich weiß, wir zucken bei diesem Thema innerlich zusammen, weil es sehr stark nach finsterem und geschäftstüchtigem Spätmittelalter riecht; nach krank machender Drohbotschaft und womöglich schockierenden Horrorbildern einer jenseitigen Folterkammer. Es ist auch eine Lehre, die uns Katholiken rigoros von den Kirchen des Ostens und des Westens trennt und die maßgeblich dazu beitrug, dass 1517 diese Einheit der westlichen Kirche letztlich verloren ging. Wir erinnern uns: Zur Zeit Martin Luthers besaß Wittenberg eine riesige Reliquiensammlung. Mit Ihrer Verehrung war die Verheißung verknüpft, dass die spendenfreudigen Pilger einen Ablass erwerben können, der ihre eigene zukünftige Zeit im Fegefeuer, aber auch die ihrer lieben Verstorbenen um hunderte, ja tausende Jahre reduzieren könnte. Je größer die Münzen-Spende dabei war, umso größer auch der Nachlass von Bußjahren. Dass damals viel Schindluder mit der Angst der Menschen getrieben wurde, darüber brauchen wir nicht mehr zu reden. Aber die Frage ist doch: Können wir einer solchen Lehre vom „Fegefeuer“ überhaupt einen Sinn abgewinnen? Kann es vielleicht sogar gut sein, ein solches „Vorzimmer des Himmels“ zu haben, um sich auf die Begegnung mit Gott einzustellen?
Lassen Sie mich den Versuch machen, keine dogmatische, sondern eine seelsorgerliche Antwort zu finden; eine Antwort, die meinen persönlichen Glauben und meine Überzeugung wiedergibt. Gott – und ich glaube, da stimmen Sie mir uneingeschränkt zu – ist unser Schöpfer, unser Vater, so wie das Jesus auch im Vater-unser-Gebet zum Ausdruck gebracht hat. Wenn es nun aber stimmt, dass Gott für uns der liebende Vater ist, dann ist doch auch klar, dass er für uns nur das Beste will – sowohl hier und heute im Irdischen, wie eben auch später. Dieses Später, diese Vision eines glücklichen und guten Weiterlebens nach dem Tod, das nennen wir Himmel. Allerdings denken wir dabei nun nicht an Wolken und blaue Atmosphäre, sondern an eine ganz andere Seinsweise. Die Engländer würden sagen: Nicht sky ist damit gemeint – also der Ort, an dem die Flugzeuge unterwegs sind und die Wolken hängen – sondern „heaven“, der Ort mit dem höchsten und einem grenzenlosen Glücksempfinden. Dafür also hat Gott den Menschen bestimmt, für den „heaven“-Himmel – das ist unsere Berufung.
Jetzt wissen wir aber auch: Gott hat uns Menschen mit einem freien Willen ausgestattet. Wir sind also kein Hampelmänner oder Hampelfrauen an der Leine Gottes und es ist uns auch kein Instinkt eingepflanzt, der uns immer nur nach dem Willen Gottes handeln ließe; nein, wir Menschen besitzen die Freiheit, Handlungen nach unserem je eigenen Denken und unserem je eigenen freien Willen zu setzen. Also kann ich einerseits dem Willen Gottes entsprechen, ich kann ihn aber genauso gut verwerfen. Ich kann gut handeln, aber ich kann auch Schlechtes tun. Was aber nun, wenn ein Mensch stirbt, der Schlechtes getan hat? Kommt der auch in den Himmel? Wie soll das gehen, nachdem wir doch eben den Himmel noch als einen Ort der ewigen Glückseligkeit definiert haben, an dem es notwendigerweise nur Gutes gibt? Wie kann man denn dort glücklich sein, wenn es dann darin doch auch wieder Böses gibt – sei es nun in uns selbst oder in anderen, die dieses Böse dann vielleicht sogar gegen uns anwenden? Das kann und darf nicht sein; also muss das Böse draußen bleiben – aber wo?
Die jüdisch-christliche Tradition erzählt deshalb von einem entgegengesetzten Ort, den wir als Hölle bezeichnen. Oder anders gesagt: ein Ort der Verdammnis, des ewigen Unglücklich-Seins, vielleicht auch der Schmerzen und Qualen. Aber wer kommt dahin? Schließlich wollen wir ja alle in den Himmel und glücklich sein. Aber Hand aufs Herz: Ist es nicht so, dass auch wir – Sie und ich – Schlechtes an uns haben? Dass wir Schwächen und Schwachstellen unser eigen nennen, die hin und wieder von uns Besitz ergreifen und die wir – jetzt mal ganz objektiv betrachtet – als schlecht oder böse bezeichnen müssen? Gut, vielleicht haben wir die eine oder andere Schlechtigkeit schon zu Lebzeiten bereut und Gott hat uns das auch längst verziehen. Aber was ist mit jenen Schlechtigkeiten, die wir vielleicht als solche noch gar nicht erkannt haben? Es gibt mit Sicherheit Fehler, die wir nicht sehen und die wir deshalb im Augenblick unseres Todes natürlich auch nicht bereut haben; sie gehören also im Tod zu mir, sind ein Teil von mir. Kann ich damit aber in den Himmel kommen, wo es sich doch um Böses oder Schlechtes handelt? Das geht doch nicht. Aber deshalb gleich in die Hölle müssen? Das wäre ein starkes Stück. Schließlich gibt es doch nicht nur Böses an uns, sondern auch viel Gutes und Schönes.
Genau deshalb aber gibt es in der christlichen Tradition die Vorstellung vom Fegefeuer. Übrigens halte ich diese Vorstellung gar nicht für so verkehrt, nur – der Begriff ist in meinen Augen völlig daneben. Es geht hier doch nicht um brennende und sengende Flammen, springende und pieksende Teufel, die mir Qualen bereiten. Genau deshalb aber plädiere ich dafür, zum alten lateinischen Begriff zurück zu kehren, den man in Schriften bereits im 12. Jahrhundert findet, der aber später vom Wort „Fegefeuer“ und den damit verbundenen allzu plastisch geprägten Vorstellungen körperlicher Leiden und Züchtigungen überlagert wurde. Es ist der Begriff des „Purgatoriums“. Purgare heißt reinigen und Purgatorium meint somit einen Ort der Reinigung. Einen Ort oder eine Dimension, in der ich mich selbst mit meinen weniger guten Seiten erkenne und an dem ich vom Bösen, das auch in mir ist, gereinigt werde. Es ist ein adventlicher Moment des Wartens, der Läuterung – vielleicht eine Art „Schönheitssalon im Vorhimmel“, in dem meine Seele „Gottbegegnungsfähig“ gemacht wird.
Jetzt fragen Sie zu recht: Und wie soll das gehen? Nun, wenn ich sterbe, dann erwartet mich nicht das Nichts oder sonst eine nebulose Wirklichkeit, sondern Gott selbst: Er ist da und nimmt mich in seine Arme wie eine liebende Mutter oder ein liebevoller Vater, wenn ein Kind nach langer Reise nach Hause zurückkehrt. Und dann stelle ich mir vor, wird Gott mich fragen: „Wie war’s? Wie geht es Dir?“ Und dazu braucht es nicht viele Worte, sondern da reichen die Gefühle, der Blick, die Stimme des Herzens. Gott wird da sein und mit mir mein Leben durchgehen und anschauen – und dann werde ich eben auch erkennen, was gut, was schön und gelungen war; aber eben auch, was mir nicht gelungen ist, was ich falsch gemacht habe oder was mir danebengegangen ist. Und wie könnte es anders sein, als dass mir genau diese Einsicht in der Gegenwart Gottes leid tut; dass es mir Schmerzen bereitet, wie “brennend“ dieser Gott an meinem Leben als einem gelungenen Leben interessiert ist. Sind das die „Qualen und Schmerzen“ die das Purgatorium, das Fegefeuer, meint? Also keine Flammen, keine Teufel, sondern vielmehr die traurige Einsicht, über die Fehler in meinem irdischen Leben. Die Gnade des Himmels wird mir nicht einfach übergestülpt; sie ist auch kein lässiges Durchwinken und lockeres „Okay“. Gott will, dass seine Barmherzigkeit wirklich und nachhaltig in mir ankommt, dass sie auf meinen inneren „Schweinehund“ stößt, sich durch meine Elefantenhaut und mein hartes Herz durcharbeitet. Das „Grönlandeis“ in mir muss schmelzen, damit Gott mich präparieren kann und ich frei werde für den Himmel.
Bei einer solchen Sichtweise bleibt natürlich zu recht die Frage: Wozu dann aber noch die Hölle? Und ich meine, es braucht sie als potentielle Realität für jene Menschen oder Seelen, die diesen Weg des Guten nicht beschreiten wollen. Nochmals: Wir sind frei. Gott zwingt uns nicht zum Guten, sondern er schlägt uns diesen Weg vor; er zwingt uns nicht zur Reinigung, sondern er bietet sie uns nur an. Ob wir aber dieses Angebot annehmen, das ist nicht seine, sondern unsere ureigene Entscheidung im Augenblick unseres Todes, in der Begegnung mit Gott selbst. Allerdings glaube ich – und davon bin ich im Herzen überzeugt – dass diese Begegnung mit ihm so überwältigend, so liebevoll sein wird, dass tatsächlich jeder Mensch zu einer echte Reue und Umkehr fähig wird und dass sich niemand diesen Weg zum Himmel selbst verschließen wird. Deshalb konnte der große Theologe Karl Rahner auch sagen: „Natürlich gibt es die Hölle, aber sie ist leer.“ Uns Menschen erwartet der Himmel. Amen.
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Erstellt am: 04.11.2013 09:28 Uhr