L II: Eph 5, 8-14 / Ev.: Joh 9, 1-41 (Kf)
Schwestern und Brüder!
„Ich glaube nur, was ich sehe!“ – wir alle kennen diesen Ausspruch und wir sagen ihn in aller Regel, um unsere Zweifel gegenüber Dingen oder auch Aussagen zum Ausdruck zu bringen, die wir für mehr als fragwürdig oder aufgrund unserer Erfahrungen für nicht glaubhaft halten. Nun spricht aber das Evangelium heute von einem ganz anderen Sehen. Hier steht nämlich ein blind geborener Mensch im Mittelpunkt; und blind geboren, das ist gemeinhin noch einmal eine Steigerung von blind. Denn das heißt ja: Nie einem anderen Menschen jemals ins Gesicht gesehen zu haben; kein Licht, keine Landschaft, kein Bild. Und jetzt die Heilung – ganz überraschend, ohne dass er zuvor überhaupt den Wunsch geäußert hätte.
Ich kann mir denken, dass es diesem einst Blindgeborenen, von dem uns kein Name überliefert ist, am Abend dieses ereignisreichen Tages wohl schwer gefallen ist, die Augen wieder zuzumachen. Was hatte er an diesem Tag seiner Heilung nicht alles mit ansehen müssen: dass mit dem freundlichsten Gesicht die brutalsten Sachen gesagt werden; dass hinter vorgehaltener Hand gelogen und getratscht wird und dass die Stärkeren die Schwächeren fertig machen. Zum ersten Mal sah er Menschen, die von Not und Elend längst verstummt waren; er sah Hungernde, Kranke und Heimatlose. Er sah die verbissenen Mienen der Pharisäer, die ihn und Jesus der Sünde überführen wollten und er sah die Angst in den Augen seiner Eltern, was mit ihm durch die religiöse Obrigkeit wohl passieren werde. Ja, immer wieder werden ihm wohl die Bilder dieses Tages durch den Kopf gegangen sein und vielleicht hat er sich ja gefragt: Ist es jetzt ein Segen oder ein Fluch, dass ich sehen kann?
Der Blinde ist geheilt, doch an seiner Heilung entzündet sich eine Ausei-
nandersetzung, die eine ganz andere Art von Blindheit erkennen lässt. So zeichnet der Evangelist Johannes in den Pharisäern ein Spiegelbild der Menschen, die zwar über ein besonderes Sehvermögen verfügen, welches sich aber gleichzeitig auch als tiefe Blindheit erweist. Schließlich meinen diese Menschen ja ganz genau zu wissen: Der Blinde selbst oder wenigstens seine Eltern müssen gesündigt haben. Und wenn wir ehrlich sind, dann hält sich doch bei vielen bis in unsere Tage hinein die Überzeugung lebendig, dass die Krankheit eines Menschen durchaus eine Strafe Gottes sein kann. Sie glauben das nicht? Ich schon: Denn wie oft hab ich in Gesprächen mit Menschen zu hören bekommen: „Warum ich? Ich hab doch nichts Böses getan!“ Und genau hinter dieser Fragestellung bzw. Aussage lauert doch bei nicht wenigen die Überzeugung – vielleicht auch die unbewusste Überzeugung – dass ihre Erkrankung oder auch ihre derzeitige Notlage eine Folge persönlicher Schuld oder Sünde sei. Irgendetwas habe man falsch gemacht und deshalb werde man nun von Gott mit Krankheit, Leid oder auch Tod bestraft.
Nun ist diese Einstellung alles andere als neu; sie ist im Alten Testament weit verbreitet und wird da ganz besonders bei den Aussätzigen deutlich, die ob ihrer Krankheit als unrein gelten und deshalb abgeschottet von der Bevölkerung leben müssen. So werden sie aus dem Leben mit der Familie, dem Freundeskreis und auch der Arbeit weggerissen und ihr ganzes soziales Umfeld bricht mit einem Schlag weg. Dieser immer wieder hergestellte Bezug zwischen Krankheit und Sünde wird nun auch in unserem heutigen Evangelium deutlich. „Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?“ Und Jesus sagt eindeutig: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“
Die Antwort Jesu ist also nicht nur ein eindeutiges Dementi dieser wild wu-
chernden Krankheit-Sünde-Spekulation, nein – sie stößt auch eine völlig neue Denkrichtung an: Es geht gar nicht um Sünde! Denn wenn es darum gehen würde, dann wäre dieser Gott ja nichts anderes als ein kleinkarierter und bornierter Allmächtiger, der wirklich und wahrhaftig nichts Besseres zu tun hätte, als da zu sitzen und aufzupassen, um nur ja jeden Sünder abzufangen und sofort bestrafen zu können. Spüren Sie wie spießig ein solcher Gott in der Tat wäre? Also ist nicht die Sünde das Thema, sondern vielmehr das „Wirken Gottes“.
Gott zeigt im Verhalten Jesu gegenüber dem Blinden seine Einstellung zu kranken Menschen und deren Lebensschicksal. Danach stehen Glück und Heil nicht nur reichen und gesunden Menschen offen; vielmehr führt der Weg zu Heil und Glück mitunter auch durch das Tal von Krankheit und Not, durch die Senke von Sorgen und Problemen, vielleicht sogar durch das Inferno des Todes. Ich weiß, dass das Menschen nicht unbedingt trösten kann und vielfach bleibt deshalb die Frage nach dem „Warum“ einfach auch offen. Doch seien wir ehrlich: Dieser Warum-Frage wohnt sowieso keine Heilkraft inne, sie treibt höchstens in Resignation, Depression und Wahnsinn. Ja, diese Warum-Frage kann sogar mehr belasten, als die Krankheit selbst oder der Kummer, der einen eh schon kein Auge zumachen lässt. Sinnvoller scheint es mir da vielmehr zu sein, die „Wozu“-Frage zu stellen. Wozu kann oder soll das gut sein? Welcher Sinn steckt dahinter? So mancher Zeitgenosse käme wahrscheinlich in der Leidbewältigung einen deutlichen Schritt nach vorne, wenn er sich im Gespräch mit einem Therapeuten oder Seelsorger mal diese Frage stellen würde. Vielleicht würde ja auf diese Weise so mancher Herzinfarkt als unmissverständliches Warnsignal begriffen werden oder der hohe Blutdruck dazu führen, dass man sein aufbrausendes Temperament herunter fährt; dass man gelassener reagiert und sich mehr Zeit nimmt für sich und die Menschen, die einem nahe stehen. Vielleicht käme auch so mancher Raser zur Einsicht, dass ein angepasstes Tempo auf der Straße doch wesentlich besser ist, als mit Tempo auf der Intensivstation zu landen. Ich meine: Wenn man von Sünde in Bezug auf Krankheit reden will, dann doch höchstens von Unterlassungssünden; denn viele unterlassen es einfach zu fragen, welche Bedeutung – auch den
Zeichen des Leids – innewohnt.
Jesus jedenfalls lehnt einen kausalen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde ab, weil er das Heil aller Menschen will. Seine Botschaft richtet sich besonders an die Kranken, die Leidenden und an alle, welche das persönliche Schicksal so umtreibt, dass sie daran zu zerbrechen drohen. Jesus duldet keine Ausgrenzung, weil vor Gott alle Menschen dieselbe Würde besitzen. Von Gottes Heil ist niemand ausgeschlossen, es sei denn, derjenige schließt sich selber aus.
Und da können wir nun jetzt wieder auf die blicken, die in unserem Evangelium vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen: Die Pharisäer. Ihre penetranten, bohrenden Nachfragen, ihr kriminalistischer Spürsinn, ihre akribischen Untersuchungen und Verhöre nach dem Motto: Wir finden schon das Haar in der Suppe. Ja, man muss diese Wundererzählung nur lange genug drehen und wenden, dann wird das Wunder wirklich nebensächlich und man findet, wonach man gesucht hat: Nämlich die Übertretung des Sabbatgebotes, vor der das Wunder nur noch verblasst. In den Augen der Pharisäer fallen Wunder einzig und allein in die Kompetenz Gottes und Heilungen sind am Sabbat rechtlich einfach nicht vorgesehen. Somit aber steht auch ihr Urteil fest: Der Blinde ist und bleibt ein Sünder und Jesus ist es auch. Der eine wird exkommuniziert und hinaus gestoßen – der andere später ans Kreuz gehenkt.
Wie brachte es der am Dienstag verstorbene Fundamentaltheologe Eugen Biser mal auf den Punkt: „Finsternis – und damit ist die geistige Blindheit gemeint – entsteht überall dort, wo Menschen das Menschliche dem Institutionellen opfern und der Meinung sind, dass in der Entscheidung zwischen Institution, zwischen Gesetz und Mensch, der Mensch geopfert werden müsse. Da aber sagt Jesus eindeutig nein, denn der Mensch ist das eigentliche Ziel Gottes. Ihn sucht er mit seiner ganzen Liebe.“
Es ist wohl eine Binsenweisheit der Psychologie: Jeder, der anderen gegen-über ausgesprochen kritisch ist, ist gegenüber den eigenen Fehlern und Schwächen oft recht blind. Stimmt‘s? Bei anderen entdecken wir genügend Fehler, aber uns selbst halten wir für die Prototypen eines Unschuldslammes. Wenn ein anderer mal einen Fehler gemacht hat, kann man das nicht ausgiebig genug ausschlachten, aber bei einem selbst ist man der felsenfesten Überzeugung, es sei immer alles in Ordnung. In diesem Zusammenhang sagte mal ein Witzbold, er wüsste ein Rezept, wie unsere Beichtstühle wieder voller würden: Man müsste nur anordnen, dass jede und jeder nicht seine eigenen Sünden beichten soll, sondern die seiner Nachbarn und Bekannten…
Aber Spaß beiseite. Wir können festhalten: Sehend ist nach dem heutigen Evangelium, wer bereit ist, sich selbst in Frage zu stellen. Sehend ist auch, wer in der Lage ist, liebgewordene Vorurteile aufzugeben. Sehend ist, wem die Fehler anderer nicht Anlass zum Gerede und Getratsche, sondern vielmehr Anlass zum helfen sind. Sehend sind auch die, die das Haar in der Suppe mal übersehen können und alle, die im Versagen und im Scheitern noch Möglichkeiten zur Hoffnung entdecken.
Ich glaube nur, was ich sehe? Nein, das wäre falsch. Vielmehr sehe ich alles besser, weil ich glaube. Amen!
Infos unter:
Erstellt am: 01.04.2014 20:30 Uhr